I don’t wanna fight no more

Der Tag, an dem ich aufhörte zu kämpfen, liegt irgendwo in den letzten zwölf Monaten. Wo genau kann ich nicht sagen. Vielleicht irgendwo zwischen Neuseeland und Fidschi, vielleicht aber auch im Prenzlauer Berg.

Ein ewiger Kampf sei das Leben, so heißt es oft, und mit dieser Sichtweise hatte ich mich lange Zeit gut arrangiert. Auch wenn ich erst Anfang 30 bin, habe ich längst begriffen, dass der Spruch „Irgendeine Scheiße ist immer“ zu den unumgänglichen Wahrheiten des Lebens gehört. Ich habe mich damit abgefunden, ganz gut sogar. Das „Durchkämpfen“ habe ich zum Prinzip erhoben und all die Kämpfe, die inneren und die äußeren habe ich als das Salz in der Suppe des Lebens angenommen.  Durch zwei Staatsexamen habe ich mich gekämpft, durch die „üblichen“ emotionalen Krisen, durch den Verlust von Freundschaften und von Liebe und durch manche Unzufriedenheit im Job. Ich habe im inneren Widerstand gegen furchtbare Menschen in meinem Umfeld gelebt und nicht aufgegeben, wenn einzelne Schlachten verloren gingen.

Die Metapher von Krieg und Kampf – angewendet auf das friedliche zivile Leben – mag auf den ersten Blick verstörend wirken und doch lassen sich gewisse Parallelen ziehen. Wie im Krieg bewegen wir uns auch im Leben stets zwischen offensiven und defensiven Verhaltensweisen. Wir preschen vor, um unseren Idealen, Träumen und unserer Vorstellung vom Glück nachzujagen und überlegen dabei stets welche Kollateralschäden wir bereit sind, dafür in Kauf zu nehmen. Gleichzeitig verteidigen wir uns unerbittlich gegen das, was uns zurückwirft, behindert, uns traurig, frustriert und unglücklich macht. Das Führen dieser Kämpfe mag uns dazu verleiten, gewisse Eigenschaften besonders wertzuschätzen: Ungebrochener Wille, Mut, Tapferkeit, Frustationstoleranz, Durchhaltevermögen, Leidensfähigkeit, gut dosierte Aggressivität und manches Mal auch die Bereitschaft alles auf eine Karte zu setzen.

Ich konnte dem immer was abgewinnen, und vielleicht hat mich auch deshalb die Serie Game of Thrones so in ihren Bann gezogen, weil es eben auch dort um Kämpfe geht, die ewige Suche nach richtig und falsch und darum, seinen Prinzipien treu zu bleiben und danach zu handeln, weil man sich auf der richtigen Seite wähnt. Nun Leben wir heute aber nicht mehr in der finsteren Mittelalterwelt um Westeros & Co, sondern in einer Welt, in der man nicht mal mehr eben in einen (wirklichen) Krieg zieht. Unsere Bewunderung für „Kämpfer“ scheint gleichwohl ungebrochen. Menschen, die eine Krebsdiagnose bekommen, ziehen qua Definition in den Kampf gegen den Krebs und sogar friedliebende Menschen werden zu „Kämpfern für die Menschenrechte“ ernannt. Von der Liebe ganz zu Schweigen, die Pat Benatar 1983 gleich als Schlachtfeld bezeichnet hat und damit auch den letzten von uns zum Kämpfer erklärt hat.

Und so war eben auch das Kämpfen lange Zeit eben ein ganz normaler Teil meines Lebens. Ich habe mich dabei stets als recht passablen Kämpfer gesehen und bin rückblickend auf all die geschlagenen Schlachten im Großen und Ganzen zu der Ansicht gelangt, dass ich auch für alle Kommenden recht gut gewappnet sei. Das Bild vom Kampf war dabei für mich nichts Beängstigendes, es war einfach die probate Bewältigungstaktik für das Leben als solches.

Es gehörte allerdings auch stets zu meinen Taktiken, bestehende Gewissheiten in Frage zu stellen, und eines Tages stellte ich mir eben die Frage: „Wozu eigentlich dauernd kämpfen?“. Hat der israelische Historiker Harari vielleicht recht, und die Zeit der großen Kriege ist ohnehin vorbei?

Es ist ja schon eine nicht zu vernachlässigende Menge an Lebensenergie, die man in diese Kämpfe steckt. Ein gewissermaßen hoher Preis für die ersehnte Wehrhaftigkeit gegen die Widrigkeiten des Lebens und das Vorpreschen bei der Verfolgung des Glücks.

Höchstwahrscheinlich war es im buddhistischen Meditationsretreat in Thailand, wo der Samen für eine andere Sichtweise gesät wurde: Ist es möglich, dass all die Scheiße sowieso passiert, ob ich dagegen kämpfe oder nicht? Und passieren nicht vielleicht auch all die guten und schönen Dinge im Leben, ohne dass man sämtliche Energie darauf verschwendet, den Wunschvorstellungen hinterherzujagen? Kann ich gar die Waffen niederlegen und zu einem Beobachter des Lebens werden, der mit klarem und unverstellten Blick den Lauf der Dinge einfach als den Lauf der Dinge erkennt?

Seit ich zum ersten Mal diese Fragen für mich aufgeworfen habe, ist beinahe ein Jahr vergangen. Ein Jahr, in dem ich ganz unterbewusst ein praktisches Experiment gewagt habe, nämlich wie es ist, weniger involviert zu sein in die all diese Konflikte. Es hat ein paar buddhistische Ideenimpulse gebraucht und ein wenig Meditation als Training, aber vor allem hat es meine Reise um die Welt gebraucht. Zunächst, damit ich überhaupt auf die richtige Frage kommen konnte, und dann hat es den psychischen und physischen Abstand zum „normalen Leben“ gebraucht, um diese Pflanze wachsen zu lassen und den neuen Ideen eine Chance zu geben. Es brauchte Zeit, aber auch ein offenes Herz, um diesen Wandel der inneren Einstellung zu erlauben und passieren zu lassen.

Vermutlich ist das auch die Antwort auf die Frage, über die ich mir in den letzten Monaten so viele Gedanken gemacht habe: „Was bleibt?“ – Was von der Reise bleibt, kann man also vielleicht als genau diesen Wandel der inneren Einstellung beschreiben, der mir eine neue, andere Sicht auf das Leben eröffnet hat – Und ist das nicht auch genau der Grund, warum alle Reisenden aufbrechen? Der Perspektivwechsel?

Ich jedenfalls fühle mich heute freier. Nicht mehr als Kämpfer, vielmehr als Kapitän auf meinem kleinen Segelboot des Lebens sehe ich mich heute. Es ist nicht so, als hätte ich in irgendeiner Hinsicht aufgegeben – bloß aufgehört zu kämpfen. Und keinesfalls habe ich irgendeine Art von Verantwortung für mein Leben niedergelegt, denn ein Kapitän ist schließlich der verantwortliche Schiffsführer und kein Kreuzfahrtpassagier.

Dieser Vergleich erinnert mich auch an die Frage, die ich in meinem allerersten Blogspot aufgeworfen habe: „Werde ich der Meister meines Schicksals bleiben; der Kapitän meiner Seele?“ Heute fühle ich mich jedenfalls mehr denn je als Kapitän.

Ich blicke zurück ins Kielwasser meines Bootes. All das vergangene schwimmt dahin und wird zusehends kleiner. Es ist wichtig, die Vergangenheit nicht als Ballast hinter das Boot zu binden, sondern sie zurückzulassen. Was ich brauche, habe ich in meiner Erinnerung bei mir, aber es beschwert mich nicht.

Leicht gleitet mein Boot über die Wellen und ich, ich habe genug Platz im Kopf um mich auf das hier und jetzt zu konzentrieren und gelassen nach vorn zu schauen. Nicht die Vision von einem Ziel treibt mich an; Ich will erst gar nicht der Versuchung erliegen, zu glauben, dass das immerwährende Glück auf einer Insel liegt, die ich nur erreichen müsse; dass es irgendwo ein Ziel der Glückseligkeit gibt, dass ich nur fieberhaft genug suchen müsse.

Ich segle einfach mit offenem Herzen weiter und es besteht keine Notwendigkeit einen bestimmten Kurs zu erzwingen. Fest steht, es werden Sonnentage und Stürme kommen, Tage mit viel Wind und Tage mit Flaute. Den Kurs kann ich beeinflussen. Das Wetter nicht. Und das ist okay.

Über das Ankommen

„Sie sehen müde aus“, sagt der Taxifahrer, als er vom Europaplatz am Berliner Hauptbahnhof auf die Invalidenstraße abbiegt. „Ja, ich bin scheißmüde; ich war achteinhalb Monate unterwegs.“ Mehr als „Wow“ fällt ihm dazu nicht ein und so schweigen wir, während die Lichter der Stadt am Fenster vorbeiziehen. Es ist Samstagabend und am Rosenthaler Platz drängen sich die Touristen vor den Spätis.

Meine Wohnung steht noch, ist jedoch seit zwei Monaten verwaist und sieht auch so aus: Nicht warm, nicht gemütlich, nicht einladend und sauber wäre auch das falsche Wort. Mein altes Leben steht in verstaubten Kisten kreuz und quer in der Gegend rum. Immerhin muss ich keine zehn Dollar Pfand für den Zimmerschlüssel bezahlen und meine Wertsachen nicht mehr in einen Spind einschließen. Dafür muss ich mein Bett selbst beziehen. Ich setze mich auf eine der Kisten und reiße mir ein Bier auf. Ich genieße das Gefühl, einmal und die ganze verdammte Welt gereist zu sein.

Wenn man unterwegs ist, dann ist man immer selbst der Mittelpunkt der Welt, alles dreht sich um einen selbst. Aber jetzt bin ich bloß noch einer von 3,712 Millionen Einwohnern der Hauptstadt, der in seiner Wohnung auf einer Kiste sitzt. Und es ist nicht so, als hätte die Stadt auf mich gewartet; es ist ihr natürlich scheißegal ob ich hier oder sonst irgendwo auf der Welt sitze.

Genug Bestandsaufnahme für heute. Ich muss schlafen. Lange schlafen.

Als ich die Augen wieder öffne, scheint die Sonne. Ein Umstand der hier – Erzählungen nach – in den letzten Monaten eher unbekannt gewesen ist. The show musst go on, so viel steht mal fest. Ich putze die Wohnung, um sie wieder zu meinem Ort zu machen, packe die Kisten aus, sage den Nachbarn „Hallo“, kaufe banale Dinge wie Müllbeutel und was man eben so braucht, wenn man in einer Wohnung und nicht in einem Hostel wohnt. Ich telefoniere mit der Krankenkasse und mit dem Arbeitsamt und erstelle eine lange Checkliste, um die eingemottete Maschine namens „normales Leben“ wieder fit zu machen und ans Laufen zu bringen.

Erstmal tue ich jedoch, was ich mittlerweile am besten kann und verschaffe mir einen Überblick. Unter dem Vorwand Besorgungen machen zu müssen, leihe ich mir einen dieser Elektroroller und cruise kreuz und quer durch die Stadt, meine Stadt. Alles noch da, stelle ich fest: der Volkspark, der Fernsehturm, die Warschauer Straße, die Rummelsburger Bucht, der „Görli“, der „Kotti“, der Hermannplatz und selbst die verdammte Ringbahn kreist – wie vermutet – noch immer unermüdlich um das Herz der Stadt. An der Ecke Schönhauser esse ich im Schatten der Hochbahn bei Konnopke’s die erste Currywurst seit neun Monaten und beobachte die Massen, wie sie zum Flohmarkt am Mauerpark pilgern. War ich jemals weg? Obwohl mindestens eine Welt (und gefühlt ein halbes Leben) zwischen dem Berlin liegt, das ich zurückgelassen habe und dem, in das ich zurückgekehrt bin, fühlt es sich merkwürdig vertraut an. Für einen kurzen Moment fühlt es sich dann doch so an, als sei ich auf meiner Reise irgendwo angekommen.

Gut, denke ich, die Spielzeit mag eine neue sein, aber das Theater ist noch das alte. Und ich? Ich muss jetzt erstmal schauen, was hier so für Stücke aufgeführt werden und welche Rolle ich darin spielen will. Keine leichte Aufgabe, aber auch kein übler Zustand: Ich kann sein und werden, was ich will.

Die Leute sagen immer: „Wer seinen Hafen nicht kennt, dem ist kein Wind günstig.“ Aber vielleicht sind demjenigen dann auch einfach alle Winde günstig!? Da stehe ich also immer noch auf meinem metaphorischem Boot des Lebens, in gewisserweise immer noch unterwegs, immer noch mit unklarem Ziel, aber auch immer noch als Kapitän mit dem Steuer fest in der Hand und dem Blick voraus.

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„What if just can’t find my way back home?“

„What if just can’t find my way back home?; What about all the things I just don’t know?“ Berechtigte Fragen, die die Bag Riders da gerade durch meine Kopfhörer singen, als ich an der Sicherheitskontrolle warte. Und drängende Fragen, denn ich trete meinen letzten Weg auf dieser Reise an – den Weg nach Hause.

Am Gate starre ich auf mein Smartphone: „Vatikan korrigiert: Die Hölle gibt es doch“ titelt die Online-Ausgabe der FAZ. „Passengers for flight MT2648, please get ready for boarding“, titelt die Stimme aus dem Lautsprecher. Ich weiß gar nicht, welche der beiden zuletzt aufgenommenen Informationen mich mehr schockiert. Mein Gefühlszustand variiert jetzt nicht mehr täglich sondern minütlich zwischen „Ich bin bereit“ und „Nein, es darf noch nicht zu Ende sein“. Ich kralle mich an der Plastik-Sitzschale in der Wartehalle fest und denke verzweifelt, „RENN!; Es ist noch nicht zu spät, Belize ist nicht weit weg.“ „Doch, Belize ist sehr weit weg, Amigo“, flüstert eine leise Stimme aus meinem Kreditkartenfach.

Es ist Zeit, den Widerstand aufzugeben. Ich heule ja nicht in der Öffentlichkeit. Warum eigentlich nicht? Das muss so ein Geschlechterrollending sein. Frauen tun das doch auch und längst ist es wissenschaftlich bewiesen, dass das ein absolut probates Mittel zum Stressabbau ist – und ich habe Stress: Das Leben, wie ich es kannte, endet. Mal wieder. Ich wurde vor diesem Moment gewarnt und jetzt weiß ich, was die Leute meinten. Es fühlt sich seltsam an. Die Schlange, an der Bordkartenkontrolle hat sich aufgelöst und ich trotte zur Gangway, getragen von einer sich spontan eingestellten Gleichgültigkeit.

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„Cabin Crew, arm doors and crosscheck“, krächzt der Captain durch die Lautsprecher. Ich schließe den Anschnallgurt – *klick*. Irgendwann, so in 20 Stunden, da werde ich sagen können, ich habe die ganze Welt umrundet. „Und wofür?“ wird der Zyniker fragen, „Nur um exakt wieder an dem Punkt anzukommen, an dem Du gestartet bist?“

„Was für törichter Irrtum“, könnte ich entgegnen: „Diesen Punkt gibt es doch längst nicht mehr. Längst ist die Welt doch eine ganz andere als vor über acht Monaten. Die Große und meine Kleine.“

Man kann überhaupt gar nicht zurückfliegen, man kann immer nur weiterfliegen.

„Nichts ist absolut. Alles verändert sich, alles bewegt sich, alles dreht sich, alles fliegt und verschwindet.“

Frida Kahlo

Chiapassionate

Meine Reise führt mich zunächst durch den mexikanischen Bundesstaat Chiapas, wo ich als erstes in San Cristobal de las Casas Station mache. Ich verlasse das klapprige Flugzeug der mir völlig unbekannten mexikanischen Airline und steige in einem indischen Yoga-Hostel ab. In dessen pittoreskem Patio (dem typischen spanischen Innenhof) herrscht ein angenehmer alternativer Vibe und die Herberge ist ein guter Ausgangspunkt, um die alte Kolonialstadt zu erkunden.

Man spürt hier deutlich den Einfluss der im Umland lebenden indigenen Bevölkerung, sei es beim Essen oder auf den zahlreichen Märkten. Ansonsten lässt man sich auch hier am besten durch die Straßen treiben, isst und trinkt in den zahlreichen Restaurants und Cafés und beobachtet die Massen, wie sie sich nach Einbruch der Dunkelheit auf den Plätzen versammeln und dem jahrmarktähnlichen Treiben frönen. Die Mexikaner gehen gern raus auf die Straßen – niemand sitzt hier abends in seiner Wohnung.

Im Hostel treffe ich Nick, der Amerikaner ist Mitte Fünfzig und natürlich höchst spirituell unterwegs. Die meiste Zeit seines Lebens hat er nur in Los Angeles verbracht, wo er in einem früheren Leben mal IT-Spezialist war, bevor ihm das alles zu eng wurde, er alles hinter sich ließ und sich nun rund um die Welt meditiert. Im Gespräch erfahre ich, dass er sogar mal ein halbes Jahr in meiner Heimatstadt Paderborn gelebt hat, wo er Anfang der Neunziger im Rahmen eines Austauschprogramms bei Nixdorf gearbeitet hat. Ich erzähle ihm, dass sein damaliger Arbeitsplatz heute das größte Computermuseum der Welt beherbergt (jawohl, auch Paderborn kann mit einem Superlativ aufwarten) und dass das Label Nixdorf auch heute noch auf Geldautomaten überall auf der Erde steht, die in Paderborn das Licht der Welt erblickten. Tatsächlich gab es kein Land auf meiner Reise in dem ich nicht mindestens einmal an einem Wincor/Nixdorf Automaten Geld abgehoben hätte.

Egal, Paderborn, Deutschland, Berlin, Zuhause: All diese Gedanken versuche ich gerade noch aus meinem Kopf rauszuhalten, was mir jedoch zunehmend schlechter gelingt. Hier in San Cristobal bekomme ich sogar schonmal einen kleinen Vorgeschmack auf deutsche Temperaturen. Auf 2100 Meter über dem Meeresspiegel werden es nachts um die fünf Grad. Ich fühle mich nicht bereit für die Kälte und verlasse die Stadt Richtung Osten nach Palenque. Obwohl Palenque nur ca. 200 Kilometer entfernt ist, ist die Reise eine Odyssee.

Der Bus ist zehn Stunden unterwegs und durchfährt gefühlt halb Mexiko, um auf den „sicheren“ Straßen zu bleiben. Zwar gibt es auch eine direkte Straße nach Palenque aber nachdem 2016 dort ein Bus von einem wütenden Mob angegriffen und niedergebrannt wurde, fährt das hiesige Busunternehmen wohl lieber den Umweg. Nach kurzer Internetrecherche beschließe ich, auch die anderen Möglichkeiten links liegen zu lassen, denn aus den Foren wird ersichtlich, dass es dort draußen offenbar immer noch wild zugeht. Alle fünf Kilometer wird man von irgendeiner Polizei, dem Militär oder mal netten, mal wütenden Demonstranten gestoppt und muss irgendwelche ausgedachten Wegzölle bezahlen – Jeder hat hier irgendeinen Auftrag, nur welchen, erfährt man selten. Reichsparen kann man sich auf der Direktverbindung also schonmal nicht; und scheitert die Kommunikation mit den Hobby-Zöllnern, weil der Taxi- oder Collectivo-Fahrer kein Maya spricht, soll vereinzelt auch schonmal auf Autos geschossen worden sein. Das ist jedenfalls das, was „das Internet“ sagt und das ist gerade alles, was ich habe. Jetzt, wo ich es bis hierhin (halbwegs) unversehrt geschafft habe, will ich das Schicksal nicht herausfordern und entscheide mich für einen weiteren Tag im Bus. Der wird letztendlich zwar auch eine Stunde lang vom Militär aufgehalten, das – mit ebenfalls unklarem Auftrag – die Zeit bei unserem Gepäck verbringt, aber immerhin will niemand Geld haben.

In Palenque angekommen, hat sich das Wetter wieder auf tropische Hitze normalisiert. Die Stadt liegt tatsächlich mitten im Dschungel, was einigermaßan erwähnenswert ist, da Mexiko ansonsten eher wüstenmäßig beschaffen ist. Auch hier begebe ich mich natürlich wieder auf die Spuren der Maya, die hier mitten im Urwald die Reste einer Megametropole hinterlassen haben, bei deren Erkundung man sich fühlen kann wie Indiana Jones bei der Entdeckung des „Tempels des Todes“.

Auch wenn meine Begeisterung für die archäologischen Stätten in letzter Zeit ein wenig abgenommen hat, ist Palenque – nicht zuletzt wegen seiner Lage im Dschungel – doch nochmal eine besondere Kirsche auf der Maya-Torte.

La capital mundial del mezcal

Oaxaca kann man nicht auslassen, wenn man durch México reist. In Mexico-City waren sich alle einig, dass es sich um eine der besten Städte Mexikos handelt. Ja, es hieß gar einmal, „Oaxaca ist alles was Mexico gerne sein möchte.“ Ich checke im „Casa Angel Hostel“ ein, das sich als ganz hervorragende Wahl entpuppt und von mir spontan in die „Top 5“ meiner Reise gewählt wird.

Auch die Stadt lässt keine Wünsche offen. Pittoreske kleine Häuschen im Kolonialstiel, feinste Kirchen und Klöster und alles in einer beachtlich großen Altstadt. Hier kann man sich ohne Weiteres planlos treiben lassen. Ich hänge in den Cafés an den belebten Plätzen ab und trinke Moka, eine Mischung aus Kaffee und Schokolade, weil die Region für ihre Schokolade berühmt ist. Beim Nichtstun beobachte ich die Leute auf dem zentralen Platz (Zócalo, wie er überall in Mexico heißt) und versuche meine Spanisch-Kenntnisse von Null auf 1% zu bringen.

Obwohl ich, was das Lernen von Sprachen betrifft, eher auf dem Niveau Totalversager rangiere, werde ich schnell besser im Speisekarten-Raten und Bestellen. Stolz trage ich im gehypten Streetfoodladen meine Tlayuda-Bestellung vor und nicke lachend, als die Omi hinter dem Tresen mich auf spanisch zuquatscht. „Si, si, con carne“, sage ich, während sie geduldig versucht, mir zu erklären, dass sie erst in zwei Stunden aufmacht. Ist halt noch kein Meister vom Himmel gefallen.

Abends ziehe ich mit den Leuten aus dem Hostel los. Ich habe das Glück, mich in einer bunten internationalen Truppe interessanter Leute wiederzufinden und wir machen uns auf, um das Nr.1-Produkt der Region zu würdigen: Mezcal. Weltweit ist vor allem die Sorte Tequilia (die nur in der gleichnamigen Stadt hergestellt werden darf) bekannt, aber dass sich die Auswahl in manchen Bars über 20 Seiten der Getränkekarte erstreckt, lässt vermuten, dass der Weltöffentlichkeit in Sachen Agavenschnaps bislang einiges vorenthalten wurde. Viele der schicken Bars entsprechen so ganz und gar dem gängigen Mexiko-Klischee: Laute mexikanische Live-Musik in schnuckeligen Innenhöfen, die direkt aus einem Bildband gefallen sein könnten. Aber es gibt auch die Bars in den Garagen mit weißem Neonlicht und Plastikstühlchen, wo in Mikrodestillerien gebrannter Mezcal aus Plastikflaschen ausgeschenkt wird und man für fünf Euro (inklusive Essen) die Nacht seines Lebens verbringen kann.

An meinem letzten Tag in der Stadt buche ich noch eine Tour, weil zahlreiche „Must-Sees“ außerhalb der Stadt liegen. Mit paar Leuten vom Hostel besuchen wir eine Mezcal-Destillerie und lassen uns von den Locals erklären, wie die Herzen der Agven erst in Erdöfen tagelang schmoren, bevor sie mit einem Mühlstein zermahlen werden und dann eben den üblichen Fermentierungsprozess durchlaufen. Gegen das was sie hier herstellen, sei Tequlia bloß die Billigvariante, versichern sie uns noch bevor natürlich alles in einer exzessiven Verkostung noch vor dem Mittagessen endet. Am Nachmittag folgen noch einige Stunden zusammengepfercht im Minivan, um noch eine weitere Ausgrabungsstätte und einen Wasserfall zu besichtigen.

Beides gehört natürlich zu den krassesten beziehungsweise schönsten, größten, wahlweise aber auch ältesten der Welt. Wenn der nicht der Welt, dann jedoch der nördlichen Hemisphäre. Überhaupt hat jeder Ort von irgendwas irgendein Superlativ, das euphorisch angepriesen wird. Es wird eben so lange gesucht, bis man was einzigartiges gefunden hat. In Neuseeland, erinnere ich mich, wurden – mangels beeindruckend großer Delfine – eben die kleinsten Define der Welt angepriesen. Wie dem auch sei, der Wasserfall ist tatsächlich nicht übel, aber vermutlich hätte ich auch ohne ihn gesehen zu haben meinen Seelenfrieden finden können. Wasserfall-Sammelkarten habe ich ohne Ende im Gepäck, sogar noch mehr als Tempel-Sammelkarten. Und mich beschleicht das Gefühl, dass ich in den nächsten Wochen auch noch einen Schwung Ruinen-Sammelkarten ergattern werde. Auch Sehenswürdigkeiten unterliegen den Wirtschaftsgesetzten der Inflation.

Aber wenn ich schonmal hier bin, dann will ich auch das ganze Programm. Nur von mexikanischem Essen, Kaffe und Mezcal kann auch kein Reisender leben. Jedenfalls ist das die landläufige Meinung, die ich auf den letzten Metern auch nicht mehr in Frage stellen werde.

Mexico-City

Fast alles, was ich über Mexiko weiß, weiß ich aus Büchern oder Filmen über den Drogenkrieg. Das ist natürlich ein bisschen unfair gegenüber dem Land, aber jetzt bin ja hier, um mir selbst ein Bild zu machen.

Im Taxi vom Flughafen zum Hostel regnet es, wie ich es sonst nur vom asiatischen Monsun kenne, und der ohnehin ultrachaotische Verkehr kommt auf den überfluteten Straßen vollends zum erliegen. Ich bin seit 24 Stunden auf den Beinen (oder vielmehr nicht auf den Beinen sondern in der Economy-Class eingequetscht) und der dunkle – nur von den zuckenden Blitzen erhellte – Himmel steht in massiven Widerspruch zu meinen Erwartungen an das mexikanische Wetter. Nachdem ich gefühlte weitere 24 Stunden mit Schlafen verbracht habe, hat sich das Wetter wieder im Normalzustand eingependelt – nämlich sonnig und heiß – und ich kann mich aufmachen, die Stadt zu erkunden. Mexico-City gehört zu den größten Städten der Welt und ist vermutlich die größte Stadt in der ich jemals war.

Ich gehe los, fünf Blocks, 10 Blocks, 15 Blocks. Ich bin wachsam, denn ich kann nicht abschätzen, wie gefährlich diese Stadt wirklich ist. An unschönen Geschichten mangelt es jedenfalls nicht. Ich habe eine Hand am Portemonnaie und meinen Rucksack mit einem Kofferschloss verschlossen. Ein Pärchen erzählte mir gestern im Hostel, dass sie von der Polizei „überfallen“ wurden. Allerdings erzählten sie mir auch, dass sie im Vollsuff aus einem Club gestolpert sind und er an den nächstbesten Baum gepinkelt hat. Als dann die Handschellen klickten (was sicher auch in New York passiert wäre), mussten die beiden sich mit allem was sie hatten – von Handys bis zu den Kreditkarten -aus dieser Situation wieder freikaufen; diese Möglichkeit hätten sie in New York vermutlich nicht gehabt. Und weil auch alle Einheimischen mir raten, mich bloß von der Polizei fernzuhalten, beschließe ich das auch zu tun. In Mexiko gilt am Ende auch nichts anderes als in allen anderen Ländern: Die Hinweise des Auswärtigen Amtes sollte man lediglich sehr schnell überfliegen und sich ansonsten auf den gesunden Menschenverstand verlassen.

Ich lasse mich also treiben und plötzlich habe ich es wieder zurück: Das langvermisste Gefühl, irgendwo völlig verloren zu sein. Ich könnte hier eine hübsche Liste von Superlativen abhaken, der drittgrößte Platz der Welt (Moskau und Peking habe ich ja schon), die längste Stadtstraße der Welt, aber das sind bloß leere Zahlen. Wahrnehmbar ist für mich nur das Gefühl, ein winziges unbedeutendes Nichts in diesem fremden Ort zu sein, in dem niemand auf mich gewartet hat. Ich mag dieses Gefühl, denn es bedeutet, wieder Neues entdecken zu können; die Droge des Reisenden, nach der auch ich ein bisschen süchtig geworden bin, in den letzten acht Monaten. Bestärkt wird dieses Gefühl noch dadurch, dass ich kein Wort spanisch spreche und man mit Englisch hier nicht sonderlich weit kommt. Zu Fuß übrigens auch nicht. Ich versuche einige Zeit eine Metro-Karte aus dem (ebenfalls nur spanisch sprechenden) Automaten zu ziehen. Aus reiner Nettigkeit (oder aus Mitleid) bezahlt eine Frau am Drehkreuz schließlich für mich – ein eigene Karte habe ich aber immernoch nicht. Es dauert einige Zeit bis ich mich zurechtfinde, aber irgendwann habe ich eine eigene Karte und einen groben Überblick über das Netz. Die öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen ist für mich essentiell, um eine Stadt zu verstehen. „Learn the Subway“ riet schon Al Pacino als Fürst der Finsternis im Film „Im Auftrag des Teufels“. Man darf erst gar nicht damit anfangen, aus Furcht vor vermeintlichen Gefahren nur noch Uber zu benutzen – auch wenn das hier lächerlich günstig ist. Wer eine Stadt erleben will, muss abtauchen in ihre Venen. Außerdem ist ein Taxifahrt zur Rushhour hier eine Tagesbeschäftigung.

Als ich eine Pause in einem Café einlege, entschließe ich mich kurzerhand der S. zu schreiben, die hier wohnt. Wir haben den ersten Weihnachtstag zusammen am Tresen unseres Hostels auf Bali verbracht und wie bei jeder Reisebekanntschaft haben wir uns versichert, uns zu treffen, wann immer uns unser Weg in das Land des anderen spült. Allerdings habe ich noch nie ausprobiert, was passiert, wenn man das wirklich mal tut. Bis jetzt.

Die S. freut sich, von mir zu hören und wir verabreden uns gleich für den Abend. Ich bekomme eine 1A Einführung ins Nachtleben von Mexico-City. Wir trinken Bier, Mezcal und Pulque, tanzen, reden und sind bis in die Morgenstunden unterwegs. Es macht Spaß, denn das letzte Mal richtig feiern war ich in Neuseeland; was mit D.F. – wie man die Stadt hier nennt – natürlich keineswegs zu vergleichen ist.

Auch in den nächsten Tagen nimmt die S. Sich Zeit und zeigt mir Ecken der Stadt, in die ich sonst nie gekommen wäre. Es ist komfortabel für mich, mit ihr unterwegs zu sein. Sie erklärt mir das mexikanische Essen und bestellt für uns in spanisch. Sie weiß, wo man hingehen kann – und wo nicht. Ich sehe die Stadt von ihrer freundlichen Seite und würde mich die S. nicht dann und wann daran erinnern, vorsichtig zu sein, würde ich wohl ein bisschen nachlässig werden, denn nach einigen Tagen fühle ich mich recht sicher.

Am nächsten Tag besuchen wir das Haus von Frida Kahlo – ein ganz und gar beeindruckender Ort. Nicht etwa, weil dort überall ihre – wie ich finde eher mittelmäßigen – Bilder ausgestellt sind, sondern weil Fridas Geschichte hier beinahe wieder lebendig wird. Man muss diese Frau einfach bewundern für ihr Lebenswerk und all die Eigenschaften, die man selbst so gerne hätte. Diese ungeheure Willenskraft bei gleichzeitig unbedingtem Hedonismus. Kompromisslos „Ja“ zum Leben zu sagen, dass ist es doch, was wirklich zählt. Jedenfalls fühlt es sich an diesem Ort so an.

Ganz anders ist das Gefühl in Teotihuacán. Die Ruinenstadt wurde lange vor den Zeiten von Jesus und co. gegründet und war in ihrer tausendjährigen Geschichte eine der bedeutendsten Städte der Welt. Allerdings weiß niemand genau, was hier wirklich los war, denn schon die Azteken haben diesen Ort als verlassene Ruinenstadt vorgefunden. Sie schrieben ihm magische Kräfte zu und gaben ihm seinen heutigen Namen, der soviel bedeutet, wie „Der Ort an dem man zu einem Gott wird“. Noch heute recken daher die Leute auf der Sonnenpyramide die Hände in den Himmel, um magische Energie aufzusaugen. Natürlich schließe ich mich gleich an, denn ein bisschen Energie kann ich bestens gebrauchen. Jetzt, im Herbst meiner Reise, fühle ich durchaus eine gewisse Erschöpfung.

Wir sitzen auf den Stufen der Mondpyramide und schauen die kilometerlange „Straße der Toten“ entlang. Für einen kurzen Augenblick wird die Stadt vor meinen Augen wieder lebendig und ich sehe Menschen durch die Straßen laufen; Händler, Arbeiter, Bauern und Herrscher. Ich sehe sie in ihren Häusern bei ihren Familien sitzen, Essen, Schlafen und Sex haben. Aber all das passiert nur in meinem Kopf, denn in Wirklichkeit sehe ich nur einen Haufen Steine. Niemand isst hier mehr mit seiner Familie, niemand schläft hier und niemand hat Sex (jedenfalls sehe ich niemanden). Sie sind alle seit tausenden von Jahren weg und mit ihnen auch ihre Geschichten, an die sich niemand erinnert und die vielleicht deshalb auch niemals stattgefunden haben. Alles was sie uns hinterlassen haben ist ein schweigender, gestapelter Haufen Steine. Ich erinnere mich an eine Zeile aus dem Lied „Cycling trivialities“ von José Gonzales:

Who cares in a hundred years from now

Who’ll remember all the players

Who’ll remember all the clowns?

Die Antwort in diesem Fall ist wohl eindeutig: Niemand. Sie mögen alle tot und vergessen sein, aber wir sind es nicht. Wir sind quicklebendig, sagen „Ja“ zum Leben und trinken ein letztes Bier zusammen, bevor wir uns verabschieden und ich meine Reise fortsetze.

Seifenblasen

Ich verabschiede mich von den Dorfbewohnern in Navotua und lasse mich vom Kapitän in seiner Nussschale ein paar Inseln weiter südlich fahren. Das Wetter hat sich nicht verbessert und das nur drei Meter lange Boot juckelt im Gewittersturm über drei Meter hohe Wellen. Aber solange noch alle lachen, besteht sicher kein Grund zur Sorge – hoffe ich jedenfalls. Als ich an Bord des Yasawa-Flyers gehe, bin ich nass bis auf die Knochen und durchgefroren; durchgefroren inmitten der Südsee! Mein nächster Stop liegt auf einer der größeren Inseln und ist diesmal ein Resort. Es ist Zeit für eine „richtige“ Dusche und ein kaltes Bier. Natürlich ist so ein Resort nicht mehr das „echte Fidschi“, sondern das, was man in den Reisekatalogen findet: Blitzsauber, geharkte Strände, W-LAN. Ich bleibe gleich mal 6 Nächte, denn ich habe keine Lust mehr, alle zwei Tage aus- und wieder einzupacken, mit einem kleinem Boot zu einem größeren Boot zu fahren, um dann wieder auf eine Insel zu kommen, die bestimmt ganz ähnlich ist. Also richte ich es mir gemütlich ein, in dieser aus dem Katalog entsprungen Seifenblase.

Viel zu tun gibt es hier natürlich auch nicht, schließlich handelt es sich immer noch um eine einsame Insel und hier gibt es noch nichtmal ein Dorf in der Nähe. Immerhin kann man kleinere Hikes unternehmen, tauchen und schnorcheln. Nur 30 Meter von der Tür meines Dorms entfernt liegt eines der beeindruckendsten Korallenriffe, die ich jemals gesehen habe. Stunden verbringe ich hier und niemals wird es langweilig.

Das Wetter hat sich zum Glück gebessert, so dass ich draußen in der Sonne brutzeln kann und die strahlenden Farben in meiner Seifenblase genießen kann. Abends quatsche ich mit den kommenden und gehenden Island-Hoppern und tagsüber mit den Angestellten, die schon längst meinen Namen kennen und mir auch mal einen Gin-Tonic oder eine frisch geöffnete Kokosnuss zum Strand bringen. Ja, hier braucht man sich wirklich um nichts zu sorgen, außer vielleicht darum, dass einem eine dieser Kokosnüsse auf den Kopf fällt. Sogar die Haie hier sind freundlich. Zwar leben hier eine Menge Bullenhaie, aber die Einheimischen beteuern stets, dass die höchstens spielen wollen. Und tatsächlich steht sogar in diversen Reiseführern, dass Fidschi der einzige Ort auf der Welt sei, wo man auch ohne Käfig mit den Tieren tauchen kann. Warum das so ist, wird irgendwie nicht ganz klar, ist aber vielleicht auch egal. Wahrscheinlich sind auch die Haie hier „on Fiji-Time“ und haben schlicht keine Lust, von den Touristen zu kosten.

Wie dem auch sei, ich genieße das süße Nichtstun, während die einzige Entscheidung, die ich hier treffen muss, die Auswahl des nächsten Essens ist. Ich überlege noch, ob ich in einen luxuriösen Einzelbungalow umziehe, um diese kleine Flucht noch ein bisschen surrealer zu machen, denn ich weiß, schon ganz bald muss ich wieder weiter.

Die Wandstärke einer Seifenblase beträgt übrigens nur 0,0008 Millimeter; und niemals lebt sie unendlich.

Navotua – Wie weit ist weit weg?

Klar, Neuseeland ist geografisch weit weg von Berlin. Sibirien ist zwar geografisch nicht ganz so weit weg wie Neuseeland, dafür aber mental um so weiter. Und Navotua? Navotua ist beides. Mitten in der Südsee bin ich so weit weg von Zuhause – ja, von Allem – wie noch nie in meinem Leben. Hier, weit im Norden der fidschianischen Yasawa-Inseln, wo kein Touristen-Boot mehr hinfährt, wohne ich in einem traditionellen fijianischen Dorf in einer traditionellen fijianischen Bure. 25 Buren, einen „Shop“, indem es nur Reis und Mehl gibt, zwei Schulen und eine Kirche. Ich wollte das Ende der Welt finden und jetzt bin ich mir sicher, dass ich es gefunden habe. All meine groben Reiseplanungen endeten hier, am Ende der Welt, und nun stehe ich am Meer und blicke auf das, was man in Deutschland gemeinhin unter dem Paradies versteht. Ich habe viele kleine und große Paradiese auf meiner Reise entdeckt; in diesem regnet es gerade.

Auch wenn ich wohl nicht weiter weg reisen kann, fühlt es sich trotzdem nicht so an, als sei ich irgendwo angekommen. Nein, der Weg bleibt auch hier am Ende der Welt das Ziel.

Nach meiner Ankunft überreiche ich erstmal die Kawa-Wurzel, die ich in der Hauptstadt auf dem Mainland gekauft habe, an den Chief des Dorfes, um meinen Respekt zu erweisen. Er murmelt unverständliche Verse über der Wurzel – eine Art Ritual – und dann bin ich in die Dorfgemeinschaft aufgenommen. „Mein Dorf ist dein Dorf.“ „Vinaka vakalevu“, bedanke ich mich. Viel zu tun gibt es hier nicht, in meinem neuen Dorf, das für eine Woche mein Zuhause sein wird. Die Menschen leben in ihren einfachen Hütten anscheinend so in den Tag hinein, und außer dem Lehrer, dem Boots-Kapitän und dem Pfarrer scheint hier niemand irgendeiner geregelten Tätigkeit nachzugehen. Strom gibt es ohnehin nur für eine Stunde am Tag, wenn der Generator angeschmissen wird; mein Handy kann ich immerhin an einem Solar-Panel laden, und wenn ich den nahegelegenen Hügel erklimme, habe ich sogar einen Strich Empfang.

Viermal am Tag gibt es Essen, und für jede Mahlzeit bin ich bei einer anderen Familie des Dorfes zu Gast. Auch wenn die traditionellen Hütten nach bitterer Armut aussehen, hungern muss hier niemand. Das Meer gibt genug Essen für alle und jede Familie baut reichlich Obst und Gemüse an. Fisch, Krabben, Auberginen, Breadfruit, Pancakes, Krapfen, Dampfnudeln – Ich habe noch nie auf meiner Reise so viel gegessen wie hier. Der Fisch wird direkt vor dem Essen gefangen, denn Kühlschränke gibt es natürlich nicht. Die Krabben machen es einem sogar noch einfacher: Jetzt in der Brutzeit laufen sie von ihren Erdlöchern zum Meer, um ihre Eier abzulegen; auf dem Rückweg laufen sie dann manchmal geradeaus durch die Küchenburen direkt in die Kochtöpfe. Vom Kochen verstehen sie hier was. Alles schmeckt köstlich, auch wenn die Zubereitung vielleicht nicht ganz nach deutschen Hygiene-Standards abläuft und man den zahlreichen Fliegen besser auch nicht allzuviel Aufmerksamkeit widmet; und feuern sie den Herd etwa mit Diesel an oder was riecht hier so? Zum Essen gibt es Regenwasser; abgefülltes Trinkwasser braucht hier niemand und deshalb gibt es auch keins. Die Portionen sind so riesig, dass ich befürchte, hier eine Woche lang gemästet zu werden, um am Ende selbst das köstlichste aller Essen zu werden. Schließlich hat der Kannibalismus auf Fidschi eine lange Tradition und Mancher munkelt gar, dass auch heute noch der ein oder andere Mensch auf dem Grill landet.

Sie sind jedenfalls gute Gastgeber, die Fidschianer. Sie laden mich zu ihrer allabendlichen Kawa-Zeremonie ein, wo sie die Kawa-Wurzeln zu einem eigenartigen berauschenden Gebräu verarbeiten und in heiterer Gesellschaft bis in die frühen Morgenstunden verkonsumieren. Alkohol ist in Navotua schlicht nicht vorhanden, aber nach 50 Tassen Kawa fühle ich mich halb bekifft und halb betrunken. Alle hier sprechen passables Englisch und sind interessierte Gesprächspartner. Wenn ich erzähle, dass ich mal Anwalt war und nun um die ganze Welt reise, schäme ich mich ein wenig für das privilegierte Leben, das ich führe und für das die allermeisten meiner Gastgeber niemals eine Chance hatten. Selbst wenn einige der Jugendlichen aus dem Dorf auf dem Mainland studieren und eines Tages ein gutes Auskommen haben sollten, werden sie Fidschi vermutlich nie verlassen. Niemals würden sie ein Visum für ein anderes Land bekommen, noch nichteinmal für die anderen Staaten des Commonwealth. Und ich? Ich habe den mächtigsten Reisepass der Welt in der Tasche und kann in jedes Land der Erde einfach reinlatschen, als wäre ich ein Staatsbürger und dabei habe ich nichts, aber auch rein gar nichts dafür getan. Was für eine Ungerechtigkeit!

Am nächsten Tag gehe ich in die Schule, wo der Lehrer drei Klassen gleichzeitig unterrichtet und ein heilloses aber heiteres Durcheinander herrscht. Alle haben gute Laune und weil auch die Kleinsten passables Englisch sprechen, scheinen sie durchaus auch was zu lernen hier. Ich sehe mir das Treiben interessiert an, verstehe natürlich kein Wort, aber für die Kinder ist meine Anwesenheit eine willkommene Ablenkung vom Schulalltag, obwohl sie – daran besteht kein Zweifel – sehr gerne hier in der Schule sind. Es gibt wirklich erstaunlich viele Kinder hier im Dorf und ich spende einen verhältnismäßig großen Betrag für die Schule, weil ich (ein bisschen naiv) hoffe, dass das dazu beiträgt, dass die Kinder vielleicht auch eines Tages ihren Träumen hinterherjagen können – so wie ich heute. Außerdem erleichtert es mein schlechtes Gewissen ob der Tatsache, dass es reiner Zufall ist, dass sie hier geboren wurden und ich in Deutschland. Um Missverständnissen vorzubeugen: Es ist nicht so, dass es irgendetwas gibt, worum man die Dorfbewohner oder die Schulkinder bedauern müsste, ganz im Gegenteil. Alle sind gut gelaunt – viel besser als in Berlin – lachen und erfreuen sich des Lebens. Es gibt genug gutes Essen für Alle und die Kinder haben so viel Platz zum Spielen, wie wohl sonst nirgends auf der Welt. Das Leben hier ist leicht und es gibt nicht den geringsten Grund, irgendjemandem zu wünschen, hier „rauszukommen“. Für manch einen Westler mag das Leben hier im Einklang mit der Natur gar das ultimative Utopia sein. Aber der feine Unterschied bleibt eben doch, dass ich die Wahl habe und sie nicht. Ich könnte hier herziehen – wenn ich denn wollte – und fortan als Fischer mit nur drei Stunden Arbeit am Tag ein entspanntes Leben führen. Aber diese Kinder könnten eben nicht – selbst wenn sie denn wollten – in New York Medizin studieren und dort als Arzt arbeiten. Und bloß der Zufall hat darüber entschieden, dass ich die Wahl habe. Jedenfalls in diesem Leben.

In Navotua sind allerdings auch meinen Wahlmöglichkeiten Grenzen gesetzt: Hier gibt es kein Entertainment-Programm, weshalb ich die Tage mit Lesen und Schlafen verbringe. Ich kann hier tagsüber stundenlang schlafen – was ich sonst nie kann – und ich frage mich, ob sich hier gerade die Erschöpfung von Monaten Bahn bricht. Das Wetter sorgt schließlich dafür, dass ich auch nicht auf die Idee komme, hier zu Wandern oder zu Schnorcheln. In der Südsee ist Hurricane-Saison und mehr als einmal fürchte ich, dass mein winziges Hüttchen einfach vom Sturm davongetragen wird. Es scheint, als wäre erst hier – wo ich größtenteils zum Nichtstun verdammt bin – auch mein Körper in der Lage, einen Gang runterzuschalten. Nur einmal unternehme ich einen Ausflug in die nahegelegene Sawa-i-Lau-See-Höhle, die aus mehreren riesigen Kammern besteht, die man nur erreichen kann, indem man meterweit durch geflutete Gänge tauchen muss. Ansonsten gehe ich in den Dorfgottesdienst, wo der Pastor bei seiner Predigt so ekstatisch schreit, dass ich nicht sicher bin, ob er noch aus der Bibel predigt oder gerade dazu aufruft, das Nachbardorf zu überfallen. Am nächsten Tag wird dann noch dem zweiten Heiligtum der Fijianer gehuldigt, der Rugby-Nationalmannschaft. Zum Spiel gegen die USA kommen Junge und alte in der Schule zusammen, wo das Spiel – so gut es eben geht – auf einen alten Laptop gestreamt wird. Das Dorfleben steht still und auch der Lehrer hat seine Klasse im Nebenraum allein gelassen, wo derweil muntere Anarchie ausbricht. Nur 14 Minuten dauert so ein Spiel und heute verliert Fiji. Beim Rugby hört sie dann auf, die immergute Laune der Dorfbewohner.

Ich gehe zurück in meine Bure, und frage mich, wie ich bei diesem Sturm jemals wieder wegkommen soll von dieser Insel. Bis zum nächsten Resort ist es eine Dreiviertelstunde in einem winzigen Boot, das mir nicht sonderlich sturmfest zu sein scheint. Aber das ist morgen und hier auf Fidschi kümmert man sich nicht um morgen. Man kümmert sich um das Jetzt – wenn überhaupt.