Mexico-City

Fast alles, was ich über Mexiko weiß, weiß ich aus Büchern oder Filmen über den Drogenkrieg. Das ist natürlich ein bisschen unfair gegenüber dem Land, aber jetzt bin ja hier, um mir selbst ein Bild zu machen.

Im Taxi vom Flughafen zum Hostel regnet es, wie ich es sonst nur vom asiatischen Monsun kenne, und der ohnehin ultrachaotische Verkehr kommt auf den überfluteten Straßen vollends zum erliegen. Ich bin seit 24 Stunden auf den Beinen (oder vielmehr nicht auf den Beinen sondern in der Economy-Class eingequetscht) und der dunkle – nur von den zuckenden Blitzen erhellte – Himmel steht in massiven Widerspruch zu meinen Erwartungen an das mexikanische Wetter. Nachdem ich gefühlte weitere 24 Stunden mit Schlafen verbracht habe, hat sich das Wetter wieder im Normalzustand eingependelt – nämlich sonnig und heiß – und ich kann mich aufmachen, die Stadt zu erkunden. Mexico-City gehört zu den größten Städten der Welt und ist vermutlich die größte Stadt in der ich jemals war.

Ich gehe los, fünf Blocks, 10 Blocks, 15 Blocks. Ich bin wachsam, denn ich kann nicht abschätzen, wie gefährlich diese Stadt wirklich ist. An unschönen Geschichten mangelt es jedenfalls nicht. Ich habe eine Hand am Portemonnaie und meinen Rucksack mit einem Kofferschloss verschlossen. Ein Pärchen erzählte mir gestern im Hostel, dass sie von der Polizei „überfallen“ wurden. Allerdings erzählten sie mir auch, dass sie im Vollsuff aus einem Club gestolpert sind und er an den nächstbesten Baum gepinkelt hat. Als dann die Handschellen klickten (was sicher auch in New York passiert wäre), mussten die beiden sich mit allem was sie hatten – von Handys bis zu den Kreditkarten -aus dieser Situation wieder freikaufen; diese Möglichkeit hätten sie in New York vermutlich nicht gehabt. Und weil auch alle Einheimischen mir raten, mich bloß von der Polizei fernzuhalten, beschließe ich das auch zu tun. In Mexiko gilt am Ende auch nichts anderes als in allen anderen Ländern: Die Hinweise des Auswärtigen Amtes sollte man lediglich sehr schnell überfliegen und sich ansonsten auf den gesunden Menschenverstand verlassen.

Ich lasse mich also treiben und plötzlich habe ich es wieder zurück: Das langvermisste Gefühl, irgendwo völlig verloren zu sein. Ich könnte hier eine hübsche Liste von Superlativen abhaken, der drittgrößte Platz der Welt (Moskau und Peking habe ich ja schon), die längste Stadtstraße der Welt, aber das sind bloß leere Zahlen. Wahrnehmbar ist für mich nur das Gefühl, ein winziges unbedeutendes Nichts in diesem fremden Ort zu sein, in dem niemand auf mich gewartet hat. Ich mag dieses Gefühl, denn es bedeutet, wieder Neues entdecken zu können; die Droge des Reisenden, nach der auch ich ein bisschen süchtig geworden bin, in den letzten acht Monaten. Bestärkt wird dieses Gefühl noch dadurch, dass ich kein Wort spanisch spreche und man mit Englisch hier nicht sonderlich weit kommt. Zu Fuß übrigens auch nicht. Ich versuche einige Zeit eine Metro-Karte aus dem (ebenfalls nur spanisch sprechenden) Automaten zu ziehen. Aus reiner Nettigkeit (oder aus Mitleid) bezahlt eine Frau am Drehkreuz schließlich für mich – ein eigene Karte habe ich aber immernoch nicht. Es dauert einige Zeit bis ich mich zurechtfinde, aber irgendwann habe ich eine eigene Karte und einen groben Überblick über das Netz. Die öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen ist für mich essentiell, um eine Stadt zu verstehen. „Learn the Subway“ riet schon Al Pacino als Fürst der Finsternis im Film „Im Auftrag des Teufels“. Man darf erst gar nicht damit anfangen, aus Furcht vor vermeintlichen Gefahren nur noch Uber zu benutzen – auch wenn das hier lächerlich günstig ist. Wer eine Stadt erleben will, muss abtauchen in ihre Venen. Außerdem ist ein Taxifahrt zur Rushhour hier eine Tagesbeschäftigung.

Als ich eine Pause in einem Café einlege, entschließe ich mich kurzerhand der S. zu schreiben, die hier wohnt. Wir haben den ersten Weihnachtstag zusammen am Tresen unseres Hostels auf Bali verbracht und wie bei jeder Reisebekanntschaft haben wir uns versichert, uns zu treffen, wann immer uns unser Weg in das Land des anderen spült. Allerdings habe ich noch nie ausprobiert, was passiert, wenn man das wirklich mal tut. Bis jetzt.

Die S. freut sich, von mir zu hören und wir verabreden uns gleich für den Abend. Ich bekomme eine 1A Einführung ins Nachtleben von Mexico-City. Wir trinken Bier, Mezcal und Pulque, tanzen, reden und sind bis in die Morgenstunden unterwegs. Es macht Spaß, denn das letzte Mal richtig feiern war ich in Neuseeland; was mit D.F. – wie man die Stadt hier nennt – natürlich keineswegs zu vergleichen ist.

Auch in den nächsten Tagen nimmt die S. Sich Zeit und zeigt mir Ecken der Stadt, in die ich sonst nie gekommen wäre. Es ist komfortabel für mich, mit ihr unterwegs zu sein. Sie erklärt mir das mexikanische Essen und bestellt für uns in spanisch. Sie weiß, wo man hingehen kann – und wo nicht. Ich sehe die Stadt von ihrer freundlichen Seite und würde mich die S. nicht dann und wann daran erinnern, vorsichtig zu sein, würde ich wohl ein bisschen nachlässig werden, denn nach einigen Tagen fühle ich mich recht sicher.

Am nächsten Tag besuchen wir das Haus von Frida Kahlo – ein ganz und gar beeindruckender Ort. Nicht etwa, weil dort überall ihre – wie ich finde eher mittelmäßigen – Bilder ausgestellt sind, sondern weil Fridas Geschichte hier beinahe wieder lebendig wird. Man muss diese Frau einfach bewundern für ihr Lebenswerk und all die Eigenschaften, die man selbst so gerne hätte. Diese ungeheure Willenskraft bei gleichzeitig unbedingtem Hedonismus. Kompromisslos „Ja“ zum Leben zu sagen, dass ist es doch, was wirklich zählt. Jedenfalls fühlt es sich an diesem Ort so an.

Ganz anders ist das Gefühl in Teotihuacán. Die Ruinenstadt wurde lange vor den Zeiten von Jesus und co. gegründet und war in ihrer tausendjährigen Geschichte eine der bedeutendsten Städte der Welt. Allerdings weiß niemand genau, was hier wirklich los war, denn schon die Azteken haben diesen Ort als verlassene Ruinenstadt vorgefunden. Sie schrieben ihm magische Kräfte zu und gaben ihm seinen heutigen Namen, der soviel bedeutet, wie „Der Ort an dem man zu einem Gott wird“. Noch heute recken daher die Leute auf der Sonnenpyramide die Hände in den Himmel, um magische Energie aufzusaugen. Natürlich schließe ich mich gleich an, denn ein bisschen Energie kann ich bestens gebrauchen. Jetzt, im Herbst meiner Reise, fühle ich durchaus eine gewisse Erschöpfung.

Wir sitzen auf den Stufen der Mondpyramide und schauen die kilometerlange „Straße der Toten“ entlang. Für einen kurzen Augenblick wird die Stadt vor meinen Augen wieder lebendig und ich sehe Menschen durch die Straßen laufen; Händler, Arbeiter, Bauern und Herrscher. Ich sehe sie in ihren Häusern bei ihren Familien sitzen, Essen, Schlafen und Sex haben. Aber all das passiert nur in meinem Kopf, denn in Wirklichkeit sehe ich nur einen Haufen Steine. Niemand isst hier mehr mit seiner Familie, niemand schläft hier und niemand hat Sex (jedenfalls sehe ich niemanden). Sie sind alle seit tausenden von Jahren weg und mit ihnen auch ihre Geschichten, an die sich niemand erinnert und die vielleicht deshalb auch niemals stattgefunden haben. Alles was sie uns hinterlassen haben ist ein schweigender, gestapelter Haufen Steine. Ich erinnere mich an eine Zeile aus dem Lied „Cycling trivialities“ von José Gonzales:

Who cares in a hundred years from now

Who’ll remember all the players

Who’ll remember all the clowns?

Die Antwort in diesem Fall ist wohl eindeutig: Niemand. Sie mögen alle tot und vergessen sein, aber wir sind es nicht. Wir sind quicklebendig, sagen „Ja“ zum Leben und trinken ein letztes Bier zusammen, bevor wir uns verabschieden und ich meine Reise fortsetze.

Autor: BuzzT1985

Highwayman, sailor, dam builder, starship captain, lawyer, still alive

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