I don’t wanna fight no more

Der Tag, an dem ich aufhörte zu kämpfen, liegt irgendwo in den letzten zwölf Monaten. Wo genau kann ich nicht sagen. Vielleicht irgendwo zwischen Neuseeland und Fidschi, vielleicht aber auch im Prenzlauer Berg.

Ein ewiger Kampf sei das Leben, so heißt es oft, und mit dieser Sichtweise hatte ich mich lange Zeit gut arrangiert. Auch wenn ich erst Anfang 30 bin, habe ich längst begriffen, dass der Spruch „Irgendeine Scheiße ist immer“ zu den unumgänglichen Wahrheiten des Lebens gehört. Ich habe mich damit abgefunden, ganz gut sogar. Das „Durchkämpfen“ habe ich zum Prinzip erhoben und all die Kämpfe, die inneren und die äußeren habe ich als das Salz in der Suppe des Lebens angenommen.  Durch zwei Staatsexamen habe ich mich gekämpft, durch die „üblichen“ emotionalen Krisen, durch den Verlust von Freundschaften und von Liebe und durch manche Unzufriedenheit im Job. Ich habe im inneren Widerstand gegen furchtbare Menschen in meinem Umfeld gelebt und nicht aufgegeben, wenn einzelne Schlachten verloren gingen.

Die Metapher von Krieg und Kampf – angewendet auf das friedliche zivile Leben – mag auf den ersten Blick verstörend wirken und doch lassen sich gewisse Parallelen ziehen. Wie im Krieg bewegen wir uns auch im Leben stets zwischen offensiven und defensiven Verhaltensweisen. Wir preschen vor, um unseren Idealen, Träumen und unserer Vorstellung vom Glück nachzujagen und überlegen dabei stets welche Kollateralschäden wir bereit sind, dafür in Kauf zu nehmen. Gleichzeitig verteidigen wir uns unerbittlich gegen das, was uns zurückwirft, behindert, uns traurig, frustriert und unglücklich macht. Das Führen dieser Kämpfe mag uns dazu verleiten, gewisse Eigenschaften besonders wertzuschätzen: Ungebrochener Wille, Mut, Tapferkeit, Frustationstoleranz, Durchhaltevermögen, Leidensfähigkeit, gut dosierte Aggressivität und manches Mal auch die Bereitschaft alles auf eine Karte zu setzen.

Ich konnte dem immer was abgewinnen, und vielleicht hat mich auch deshalb die Serie Game of Thrones so in ihren Bann gezogen, weil es eben auch dort um Kämpfe geht, die ewige Suche nach richtig und falsch und darum, seinen Prinzipien treu zu bleiben und danach zu handeln, weil man sich auf der richtigen Seite wähnt. Nun Leben wir heute aber nicht mehr in der finsteren Mittelalterwelt um Westeros & Co, sondern in einer Welt, in der man nicht mal mehr eben in einen (wirklichen) Krieg zieht. Unsere Bewunderung für „Kämpfer“ scheint gleichwohl ungebrochen. Menschen, die eine Krebsdiagnose bekommen, ziehen qua Definition in den Kampf gegen den Krebs und sogar friedliebende Menschen werden zu „Kämpfern für die Menschenrechte“ ernannt. Von der Liebe ganz zu Schweigen, die Pat Benatar 1983 gleich als Schlachtfeld bezeichnet hat und damit auch den letzten von uns zum Kämpfer erklärt hat.

Und so war eben auch das Kämpfen lange Zeit eben ein ganz normaler Teil meines Lebens. Ich habe mich dabei stets als recht passablen Kämpfer gesehen und bin rückblickend auf all die geschlagenen Schlachten im Großen und Ganzen zu der Ansicht gelangt, dass ich auch für alle Kommenden recht gut gewappnet sei. Das Bild vom Kampf war dabei für mich nichts Beängstigendes, es war einfach die probate Bewältigungstaktik für das Leben als solches.

Es gehörte allerdings auch stets zu meinen Taktiken, bestehende Gewissheiten in Frage zu stellen, und eines Tages stellte ich mir eben die Frage: „Wozu eigentlich dauernd kämpfen?“. Hat der israelische Historiker Harari vielleicht recht, und die Zeit der großen Kriege ist ohnehin vorbei?

Es ist ja schon eine nicht zu vernachlässigende Menge an Lebensenergie, die man in diese Kämpfe steckt. Ein gewissermaßen hoher Preis für die ersehnte Wehrhaftigkeit gegen die Widrigkeiten des Lebens und das Vorpreschen bei der Verfolgung des Glücks.

Höchstwahrscheinlich war es im buddhistischen Meditationsretreat in Thailand, wo der Samen für eine andere Sichtweise gesät wurde: Ist es möglich, dass all die Scheiße sowieso passiert, ob ich dagegen kämpfe oder nicht? Und passieren nicht vielleicht auch all die guten und schönen Dinge im Leben, ohne dass man sämtliche Energie darauf verschwendet, den Wunschvorstellungen hinterherzujagen? Kann ich gar die Waffen niederlegen und zu einem Beobachter des Lebens werden, der mit klarem und unverstellten Blick den Lauf der Dinge einfach als den Lauf der Dinge erkennt?

Seit ich zum ersten Mal diese Fragen für mich aufgeworfen habe, ist beinahe ein Jahr vergangen. Ein Jahr, in dem ich ganz unterbewusst ein praktisches Experiment gewagt habe, nämlich wie es ist, weniger involviert zu sein in die all diese Konflikte. Es hat ein paar buddhistische Ideenimpulse gebraucht und ein wenig Meditation als Training, aber vor allem hat es meine Reise um die Welt gebraucht. Zunächst, damit ich überhaupt auf die richtige Frage kommen konnte, und dann hat es den psychischen und physischen Abstand zum „normalen Leben“ gebraucht, um diese Pflanze wachsen zu lassen und den neuen Ideen eine Chance zu geben. Es brauchte Zeit, aber auch ein offenes Herz, um diesen Wandel der inneren Einstellung zu erlauben und passieren zu lassen.

Vermutlich ist das auch die Antwort auf die Frage, über die ich mir in den letzten Monaten so viele Gedanken gemacht habe: „Was bleibt?“ – Was von der Reise bleibt, kann man also vielleicht als genau diesen Wandel der inneren Einstellung beschreiben, der mir eine neue, andere Sicht auf das Leben eröffnet hat – Und ist das nicht auch genau der Grund, warum alle Reisenden aufbrechen? Der Perspektivwechsel?

Ich jedenfalls fühle mich heute freier. Nicht mehr als Kämpfer, vielmehr als Kapitän auf meinem kleinen Segelboot des Lebens sehe ich mich heute. Es ist nicht so, als hätte ich in irgendeiner Hinsicht aufgegeben – bloß aufgehört zu kämpfen. Und keinesfalls habe ich irgendeine Art von Verantwortung für mein Leben niedergelegt, denn ein Kapitän ist schließlich der verantwortliche Schiffsführer und kein Kreuzfahrtpassagier.

Dieser Vergleich erinnert mich auch an die Frage, die ich in meinem allerersten Blogspot aufgeworfen habe: „Werde ich der Meister meines Schicksals bleiben; der Kapitän meiner Seele?“ Heute fühle ich mich jedenfalls mehr denn je als Kapitän.

Ich blicke zurück ins Kielwasser meines Bootes. All das vergangene schwimmt dahin und wird zusehends kleiner. Es ist wichtig, die Vergangenheit nicht als Ballast hinter das Boot zu binden, sondern sie zurückzulassen. Was ich brauche, habe ich in meiner Erinnerung bei mir, aber es beschwert mich nicht.

Leicht gleitet mein Boot über die Wellen und ich, ich habe genug Platz im Kopf um mich auf das hier und jetzt zu konzentrieren und gelassen nach vorn zu schauen. Nicht die Vision von einem Ziel treibt mich an; Ich will erst gar nicht der Versuchung erliegen, zu glauben, dass das immerwährende Glück auf einer Insel liegt, die ich nur erreichen müsse; dass es irgendwo ein Ziel der Glückseligkeit gibt, dass ich nur fieberhaft genug suchen müsse.

Ich segle einfach mit offenem Herzen weiter und es besteht keine Notwendigkeit einen bestimmten Kurs zu erzwingen. Fest steht, es werden Sonnentage und Stürme kommen, Tage mit viel Wind und Tage mit Flaute. Den Kurs kann ich beeinflussen. Das Wetter nicht. Und das ist okay.

Unter Umständen 

„Dazu, dass ich wurde, wer ich bin, haben die Umstände sehr viel beigetragen, und ich nichts.“

Dieser Satz stammt nicht von mir. Zu so einer Aussage würde ich mich niemals hinreißen lassen, würde ich damit doch eingestehen, nur ein Spielball der Umstände zu sein, ja gewissermaßen ein Opfer. 

Der Satz stammt von Remo H. Largo. Der Kinderarzt hat sich hauptsächlich einen Namen mit Büchern über die Entwicklung von Kindern gemacht, hat jetzt aber, altersweise, noch ein Buch über „Das passende Leben“ rausgehauen. Das passende Leben? Das suche ich doch auch gerade.

Largos Zitat gibt auch schon gleich den Hinweis darauf, wo das Leben reinpassen muss: In die Umstände. Frei nach Charles Darwin, der ja mit „Survival of the fittest“ auch keineswegs die Dauerbesucher eines Fitnessstudios, sondern die am besten an ihre Umwelt angepassten Lebewesen meinte. Aber was bitte sollen die Umstände sein?

Für Largo geht es zunächst um die individuellen Umstände, die sich aus Bedürfnissen und Kompetenzen zusammensetzen. Jeder Mensch ist einzigartig in seinen Bedürfnissen und Kompetenzen. Beides ist in uns angelegt, teils angeboren und teils durch Erfahrungen gewachsen. Einfluss darauf haben wir nur begrenzt. 

Zugestanden: Dass mein Intellekt zufällig ausreichend war, um Jura zu studieren, ist sicherlich nicht mein Verdienst. Aber doch sicher, dass ich es durchgezogen habe? Nun, vielleicht ist ja auch einfach die Fähigkeit, sich im entscheidenden Moment zusammenzureißen, Teil meiner individuellen „Anlage“? Von diesem Standpunkt aus betrachtet, haben zumindest zu meiner Ausbildung die Umstände mehr beigetragen als ich. Also doch alles auf eine Art und Weise außerhalb unsereres Einflussbereichs?

Nein, nicht ganz. Der Kernpunkt von Largos Fit-Prinzip liegt nämlich darin, dass man seine individuellen Anlagen mit den äußeren Umständen in Einklang bringt, um das passende Leben zu leben. An diesemPunkt  kommt dann doch wieder die eigene Verantwortung ins Spiel. 

Die Herausforderung liegt demnach darin, erstens zu erkennen, was die eigenen Bedürfnisse und Begabungen sind und zweitens darin, in dieser furchtbar komplizierten Welt den richtigen Platz dafür zu finden. Es geht dabei nicht nur um den Job, es geht um nicht weniger als das gesamte Leben. 

Immer wieder geraten wir in sogenannte Misfit-Situationen, analysiert Largo. Eine Partnerschaft, die unsere individuellen Bedürfnisse nicht befriedigt, ein soziales Umfeld, dass unser Bedürfnis nach Aufmerksamkeit nicht bedient oder ein Job, in dem wir unsere Kompenzen nicht entfalten können. 

Und was rät der weise alte Mann?

Im ersten Schritt geht es darum, die Misfit-Situationen zu erkennen. Schwierig genug, denn hierfür ist ein hohes Maß an Selbstreflexion notwendig. Man braucht sowohl eine Vorstellung von sich, als auch von der Umwelt und den Umständen. Die Erkenntnis, dass man in einer solchen Situation steckt, ist gleichzeitig auch mit dem Verzicht verbunden, Sündenböcke dafür zu benennen. Wenn das Puzzleteil nicht passt, ist es weder die Schuld des Puzzleteils selbst, noch der umliegenden Puzzleteile – das Teil liegt dann eben am falschen Ort.

Im folgenden sei es angezeigt, die Misfit-Situation zu beseitigen, gewissermaßen aus ihr auszubrechen. Das Puzzleteil – um im Bild zu bleiben – wird hier nicht zurechtgeschnitten, sondern man legt es woandershin. Hierfür sind Mut und Kraft erforderlich: Jobs müssen gegebenenfalls gekündigt und Partner verlassen werden. Viele Menschen dürften schon an diesem Punkt in erhebliche Schwierigkeiten geraten.

Schlussendlich fehlt nur noch, die passende Fit-Situation zu finden. Wo bin ich mit meinen Bedürfnissen und Kompetenzen am besten aufgehoben? Die Antwort muss wohl jeder für sich selbst finden. 

Nun ja, jeden Tag zu machen was ich will, fühlt sichauf jeden Fall recht passend an für mich im Moment. Aber was wird sein, wenn ich wieder zurück bin? Es wird dann – jobmäßig gesehen – entscheidend darauf ankommen, ein paar gute Entscheidungen zu treffen.

Was ist nun also der Erkenntnisgewinn aus Largos Wälzer, dessen Lektüre dank seiner nüchternen wissenschaftlichen Ausdrucksweise kaum als unterhaltsam bezeichnet werden kann? Und was hat das überhaupt mit meiner Reise zu tun? Vielleicht alles, vielleicht aber auch nichts.

Largos Buch kann helfen, gewisse Lebenssituationen oder gar Lebensentwürfe auf ihre Sinnhaftigkeit abzuklopfen. Anders als bei pseudowissenschaftlichlicher Ratgeber-Literatur lässt einen das Buch nicht euphorisch-beschwingt zurück. Largo entfacht kein Endorphin-Strohfeuer, er liefert keine einfachen Antworten, denn die gibt es ja ohnehin nicht. Das Buch lehrt einen vielmehr die richtigen Fragen zu stellen, um die Umstände zu erkennen und richtig zu deuten. Und die richtigen Fragen zu stellen ist unverzichtbar, um das große Puzzle des Lebens zusammenzusetzen.

Und wie ist es um die momentanen Umstände hier bestellt? Ich sitze mit der K. Im Restaurant von Darren. Der Australier versorgt hier Backpacker mit Burgern und Staeks vom Grill. Wir haben einen Tisch direkt am Wasser. Es ist längst dunkel und der Mekong – mein alter Sehenssuchtsort – liegt uns still und schwarz zu Füßen. Aus den Boxen kommt U2 und in diesem Moment lassen die Inselbewohner im Dorf weiter oben hunderte kunstvoll verzierter Schiffchen mit Kerzen zu Wasser. Unzählige Flammen färben den Fluss jetzt orange. Die Einheimischen feiern das Ende der Regenzeit und wir sitzen da, hören U2 und unsere Augen folgen den Lichtern, die an uns vorbei Richtung Kambodscha ziehen, wohin auch wir als nächstes aufbrechen werden.

Die Umstände sind gerade etwas surreal und natürlich weiß ich ich, dass sie sich genauso schnell ändern können und werden, wie das Wasser hier den Mekong runterfließt. 

Mal sehen, ob ich – vielleicht dank Largos Buch – immer die richtigen Fragen stellen und die Umstände richtig deuten werde.

2000 Light Years from Home?

In Chiang Mai treffe ich meine gute Freundin K. Sie ist gerade zwischen zwei Jobs und hat nun Zeit zum Reisen. Wie es der Zufall so will, sind wir in die gleiche Richtung unterwegs und können so einen Teil unseres Weges zusammen bestreiten. Es ist ein gutes Gefühl nach knapp zwei Monaten wieder jemand Vertrautes bei mir zu haben und wir trinken und quatschen bis in die Nacht und schmieden gemeinsam Reisepläne.

Die Begegnung lässt mich auch an Deutschland denken, an zu Hause. Sie erinnert mich daran, dass ich eines Tages wieder zurück sein werde in dem, was Reisende gemeinhin als das „echte Leben“ bezeichnen. Nebenbei bemerkt eine recht tollkühne Bezeichnung: Wer sagt denn, dass ich hier nicht gerade das richtige Leben lebe und alle anderen Zuhause ein Fake-Leben?

Aber was ist überhaupt zu Hause? Die Frage mag sich seltsam anhören, haben doch die meisten Menschen eine eindeutige Antwort darauf parat. Dass man die Frage trotzdem aufwerfen kann, kam mir erstmals in den Sinn, als ich Daniel Schreibers kluges Buch zur dieser „Suche unseres Lebens“ gelesen habe. Und wo, wenn nicht auf Reisen, ist diese Suche gegenwärtiger? 

Der Reisende ist nicht zu Hause, soviel steht fest; und zumeist gibt es einen Grund, warum er es nicht ist. Vielleicht weiß er nicht, wo sein Zuhause ist?

Es ist schon möglich, dass jeder Mensch ein Zuhause braucht. Treffe ich andere Reisende, die seit Jahren unterwegs sind, habe ich nicht selten den Eindruck, dass sie verloren sind, so ganz ohne festen Bezugspunkt im Leben. Gleichzeitig kann ich die Freuden der unbedingten Freiheit nur allzugut nachvollziehen. Ich lebe schließlich selbst gerade das freieste Leben, das ich mir ausmalen kann. Und dennoch weiß ich, dass es kein Konzept für die Ewigkeit ist. Der Wert der Grenzenlosigkeit wird sich gewiss mit der Zeit verbrauchen. Ohne Zuhause ist man nicht vollständig, gewissermaßen wurzellos. 

In St. Petersburg habe ich den V. getroffen. Der IT-Spezialist hat sein Zuhause früh aus den Augen verloren. Er ist in Indien aufgewachsen und als seine Eltern sich getrennt haben, hielt ihn nichts mehr in seiner Heimat. Er hat einige Jahre in Singapur und weitere Jahre im Silicon Valley gelebt. Heute, mit 26 Jahren, hat er ein Neues Zuhause für sich gefunden, in Hamburg. In fünf Jahren kann er Deutscher Staatsbürger werden und wenn man ihn sagen hört, dass er seinen indischen Pass am liebsten sofort in die Tonne kloppen würde, dann kauft man es ihm ab: Er ist zu Hause angekommen. 

Und wo ist mein Zuhause? In Europa? In Deutschland? In Berlin? In meiner Wohnung? Da wo meine Freunde und meine Liebsten sind? Da wo mein zukünftiger Job sein wird?

Im Moment ist mein Platz überall auf der Welt, aber eines Tages wird er wieder einen Namen tragen.