Unter Umständen 

„Dazu, dass ich wurde, wer ich bin, haben die Umstände sehr viel beigetragen, und ich nichts.“

Dieser Satz stammt nicht von mir. Zu so einer Aussage würde ich mich niemals hinreißen lassen, würde ich damit doch eingestehen, nur ein Spielball der Umstände zu sein, ja gewissermaßen ein Opfer. 

Der Satz stammt von Remo H. Largo. Der Kinderarzt hat sich hauptsächlich einen Namen mit Büchern über die Entwicklung von Kindern gemacht, hat jetzt aber, altersweise, noch ein Buch über „Das passende Leben“ rausgehauen. Das passende Leben? Das suche ich doch auch gerade.

Largos Zitat gibt auch schon gleich den Hinweis darauf, wo das Leben reinpassen muss: In die Umstände. Frei nach Charles Darwin, der ja mit „Survival of the fittest“ auch keineswegs die Dauerbesucher eines Fitnessstudios, sondern die am besten an ihre Umwelt angepassten Lebewesen meinte. Aber was bitte sollen die Umstände sein?

Für Largo geht es zunächst um die individuellen Umstände, die sich aus Bedürfnissen und Kompetenzen zusammensetzen. Jeder Mensch ist einzigartig in seinen Bedürfnissen und Kompetenzen. Beides ist in uns angelegt, teils angeboren und teils durch Erfahrungen gewachsen. Einfluss darauf haben wir nur begrenzt. 

Zugestanden: Dass mein Intellekt zufällig ausreichend war, um Jura zu studieren, ist sicherlich nicht mein Verdienst. Aber doch sicher, dass ich es durchgezogen habe? Nun, vielleicht ist ja auch einfach die Fähigkeit, sich im entscheidenden Moment zusammenzureißen, Teil meiner individuellen „Anlage“? Von diesem Standpunkt aus betrachtet, haben zumindest zu meiner Ausbildung die Umstände mehr beigetragen als ich. Also doch alles auf eine Art und Weise außerhalb unsereres Einflussbereichs?

Nein, nicht ganz. Der Kernpunkt von Largos Fit-Prinzip liegt nämlich darin, dass man seine individuellen Anlagen mit den äußeren Umständen in Einklang bringt, um das passende Leben zu leben. An diesemPunkt  kommt dann doch wieder die eigene Verantwortung ins Spiel. 

Die Herausforderung liegt demnach darin, erstens zu erkennen, was die eigenen Bedürfnisse und Begabungen sind und zweitens darin, in dieser furchtbar komplizierten Welt den richtigen Platz dafür zu finden. Es geht dabei nicht nur um den Job, es geht um nicht weniger als das gesamte Leben. 

Immer wieder geraten wir in sogenannte Misfit-Situationen, analysiert Largo. Eine Partnerschaft, die unsere individuellen Bedürfnisse nicht befriedigt, ein soziales Umfeld, dass unser Bedürfnis nach Aufmerksamkeit nicht bedient oder ein Job, in dem wir unsere Kompenzen nicht entfalten können. 

Und was rät der weise alte Mann?

Im ersten Schritt geht es darum, die Misfit-Situationen zu erkennen. Schwierig genug, denn hierfür ist ein hohes Maß an Selbstreflexion notwendig. Man braucht sowohl eine Vorstellung von sich, als auch von der Umwelt und den Umständen. Die Erkenntnis, dass man in einer solchen Situation steckt, ist gleichzeitig auch mit dem Verzicht verbunden, Sündenböcke dafür zu benennen. Wenn das Puzzleteil nicht passt, ist es weder die Schuld des Puzzleteils selbst, noch der umliegenden Puzzleteile – das Teil liegt dann eben am falschen Ort.

Im folgenden sei es angezeigt, die Misfit-Situation zu beseitigen, gewissermaßen aus ihr auszubrechen. Das Puzzleteil – um im Bild zu bleiben – wird hier nicht zurechtgeschnitten, sondern man legt es woandershin. Hierfür sind Mut und Kraft erforderlich: Jobs müssen gegebenenfalls gekündigt und Partner verlassen werden. Viele Menschen dürften schon an diesem Punkt in erhebliche Schwierigkeiten geraten.

Schlussendlich fehlt nur noch, die passende Fit-Situation zu finden. Wo bin ich mit meinen Bedürfnissen und Kompetenzen am besten aufgehoben? Die Antwort muss wohl jeder für sich selbst finden. 

Nun ja, jeden Tag zu machen was ich will, fühlt sichauf jeden Fall recht passend an für mich im Moment. Aber was wird sein, wenn ich wieder zurück bin? Es wird dann – jobmäßig gesehen – entscheidend darauf ankommen, ein paar gute Entscheidungen zu treffen.

Was ist nun also der Erkenntnisgewinn aus Largos Wälzer, dessen Lektüre dank seiner nüchternen wissenschaftlichen Ausdrucksweise kaum als unterhaltsam bezeichnet werden kann? Und was hat das überhaupt mit meiner Reise zu tun? Vielleicht alles, vielleicht aber auch nichts.

Largos Buch kann helfen, gewisse Lebenssituationen oder gar Lebensentwürfe auf ihre Sinnhaftigkeit abzuklopfen. Anders als bei pseudowissenschaftlichlicher Ratgeber-Literatur lässt einen das Buch nicht euphorisch-beschwingt zurück. Largo entfacht kein Endorphin-Strohfeuer, er liefert keine einfachen Antworten, denn die gibt es ja ohnehin nicht. Das Buch lehrt einen vielmehr die richtigen Fragen zu stellen, um die Umstände zu erkennen und richtig zu deuten. Und die richtigen Fragen zu stellen ist unverzichtbar, um das große Puzzle des Lebens zusammenzusetzen.

Und wie ist es um die momentanen Umstände hier bestellt? Ich sitze mit der K. Im Restaurant von Darren. Der Australier versorgt hier Backpacker mit Burgern und Staeks vom Grill. Wir haben einen Tisch direkt am Wasser. Es ist längst dunkel und der Mekong – mein alter Sehenssuchtsort – liegt uns still und schwarz zu Füßen. Aus den Boxen kommt U2 und in diesem Moment lassen die Inselbewohner im Dorf weiter oben hunderte kunstvoll verzierter Schiffchen mit Kerzen zu Wasser. Unzählige Flammen färben den Fluss jetzt orange. Die Einheimischen feiern das Ende der Regenzeit und wir sitzen da, hören U2 und unsere Augen folgen den Lichtern, die an uns vorbei Richtung Kambodscha ziehen, wohin auch wir als nächstes aufbrechen werden.

Die Umstände sind gerade etwas surreal und natürlich weiß ich ich, dass sie sich genauso schnell ändern können und werden, wie das Wasser hier den Mekong runterfließt. 

Mal sehen, ob ich – vielleicht dank Largos Buch – immer die richtigen Fragen stellen und die Umstände richtig deuten werde.