Was bleibt

Gute fünf Wochen hat es gedauert, bis ich mich (vor allem emotional) wieder in Deutschland eingerichtet habe. Ich fühle mich in meiner Wohnung wieder zu Hause und ich habe beinahe alle Leute wiedergetroffen, die ich wiedersehen wollte. Welches Land nun das Beste war, wollten viele wissen – vermutlich schon mit den nächsten Urlaubsplanungen im Hinterkopf. Aber viele wollten auch wissen, ob mich die lange Reise verändert hat. Was macht es mit einem, so lange fort und auf sich selbst gestellt zu sein? Ist man gar ein Anderer als vorher?

So scheint jedenfalls die allgemeine Erwartung zu sein, denn so eine Reise unternimmt man ja vermutlich nur einmal im Leben und während andere Leute ihr Erspartes für Häuser, Eigentumswohnungen, Hochzeiten, Autos und Kinder ausgeben, habe ich all meine Rücklagen für diese Reise ausgegeben. Alles nutzlos verjubelt also? Eine gute Zeit gehabt und jetzt der Endorphinkater? Pleite, single und arbeitslos? Alles verzockt?

So einfach ist das natürlich nicht. Aber wo der Gewinn nicht anhand von Renditen ablesbar ist, brennt dem Homo Oeconomicus die Frage auf der Seele: „Was bleibt?“. Eigentlich erwartet man, dass so ein Vorhaben eine Zeitenwende darstellt, dass es ein „Davor“ und ein „Danach“ gibt. Halt so, wie wenn man Kinder bekommt und nichts mehr so ist, wie es vorher war – oder als Jesus geboren wurde und man gleich eine ganz neue Zeitrechnung begonnen hat. Nun, ganz so drastisch ist die Situation nicht; weder habe ich angefangen, meine Tage mit dem Vermerk n.d.R. (nach der Reise) zu zählen, noch hatte ich das Bedürfnis, morgens auf die Straße zu treten und „Das ist Sparta!“ zu brüllen. Nein, von einer Zeitenwende kann keine Rede sein und ich fühle mich auch nicht wie ein anderer Mensch. Wäre ja auch seltsam, wenn sich innerhalb von neun Monaten meine Persönlichkeit gravierend verändert hätte. Wenn ich morgens in den Spiegel schaue, sehe ich immer noch denselben.

Aber ich fühle mich ein wenig älter. Irgendwie scheint es, als hätte ich einen Zeitsprung gemacht. Tatsächlich war ich bloß neun Monate weg, aber ich habe in der Zeit gefühlt ein halbes Leben gelebt. Wie kommt es zu diesem Gefühl? Es heißt, dass dem Menschen auf dem Sterbebett seine Kinder- und Jugendjahre genauso lang vorkommen, wie der gesamte Rest seines Lebens. Das liege daran, dass man in dieser Zeit eben einen Haufen Erfahrungen zum ersten Mal macht, was das Gehirn dazu veranlasst, diesen sog. „Pioniererfahrungen“ einen besonderen Platz im Gedächtnis einzuräumen. Dagegen kann ein Jahr, in dem man jeden Tag ins Büro ging, vom Gehirn mühelos zu einer Erinnerung von wenigen Minuten komprimiert werden. Diese immer gleichen Tage verschwinden auf diese Art einfach irgendwann aus der Erinnerung. Was für eine fürchterliche Vorstellung, denn unsere Erinnerung ist doch unsere Identität.

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Die Einsicht, dass das was bleibt, die Erinnerung ist, ist banal. Erst vor dem Hintergrund, dass wir im Grunde nichts anderes sind, als die Summe unserer Erinnerungen, wird die Erkenntnis überhaupt erwähnenswert. Bloß 2,3 Prozent meines bisherigen Lebens habe ich mit der Reise um die Welt verbracht und doch kommt es mir vor, wie ein halbes Leben. Es ist, als hätte ich zusätzliche Lebenszeit erschaffen. Was klingt wie Zauberei, ist unter Psychologen und Hirnforschern ein bekanntes Phänomen. Und deshalb sollte das auch dem Homo Oeconomicus einstweilen als Antwort auf seine Frage genügen: Lebenszeit als Output. Es erklärt vielleicht auch, warum ich mich – obwohl ich kein Geld mehr habe – im Grunde reich fühle.

Zugegeben, die Frage nach dem – wenn man so will – „wirtschaftlichen Nutzen“ meines ganzen Reiseunterfangens war eine der eher einfach zu beantwortenden. Schwieriger – und damit ungleich interessanter – ist natürlich die Frage, was das mit einem als Person oder vielmehr als Persönlichkeit macht. Was sind die Schlüsse, die man nach so einer Erfahrung für sein weiteres Leben ziehen kann? Kenne ich mich jetzt besser? Habe ich mich selbst gefunden? Bin ich weiser oder nur älter geworden? Gibt es Dinge, die ich in Zukunft anders machen will? Muss ich bisherige Lebensgewissheiten korrigieren? Findet man unterwegs Antworten, die man nicht in der drittklassigen „Better-Life-Selbstoptimierer-Literatur“ findet, die derzeit die Buchhandlungen überschwemmt?

Die Suche nach Antworten ist auch nach der Reise ein längerer Prozess geblieben. Leider bin ich nicht (wie erhofft), wie Buddha eines Tages erleuchtet unter einer Pappelfeige aufgewacht, sondern immer noch ein Fragender. Es fühlt sich trotzdem so an, als sei ich manchen Antworten ein Stückchen näher gekommen oder jedenfalls besser darin geworden, die richtigen Fragen zu stellen. Ihnen will ich hier demnächst, gewissermaßen als Nachlese, auf den Grund gehen.

2000 Light Years from Home?

In Chiang Mai treffe ich meine gute Freundin K. Sie ist gerade zwischen zwei Jobs und hat nun Zeit zum Reisen. Wie es der Zufall so will, sind wir in die gleiche Richtung unterwegs und können so einen Teil unseres Weges zusammen bestreiten. Es ist ein gutes Gefühl nach knapp zwei Monaten wieder jemand Vertrautes bei mir zu haben und wir trinken und quatschen bis in die Nacht und schmieden gemeinsam Reisepläne.

Die Begegnung lässt mich auch an Deutschland denken, an zu Hause. Sie erinnert mich daran, dass ich eines Tages wieder zurück sein werde in dem, was Reisende gemeinhin als das „echte Leben“ bezeichnen. Nebenbei bemerkt eine recht tollkühne Bezeichnung: Wer sagt denn, dass ich hier nicht gerade das richtige Leben lebe und alle anderen Zuhause ein Fake-Leben?

Aber was ist überhaupt zu Hause? Die Frage mag sich seltsam anhören, haben doch die meisten Menschen eine eindeutige Antwort darauf parat. Dass man die Frage trotzdem aufwerfen kann, kam mir erstmals in den Sinn, als ich Daniel Schreibers kluges Buch zur dieser „Suche unseres Lebens“ gelesen habe. Und wo, wenn nicht auf Reisen, ist diese Suche gegenwärtiger? 

Der Reisende ist nicht zu Hause, soviel steht fest; und zumeist gibt es einen Grund, warum er es nicht ist. Vielleicht weiß er nicht, wo sein Zuhause ist?

Es ist schon möglich, dass jeder Mensch ein Zuhause braucht. Treffe ich andere Reisende, die seit Jahren unterwegs sind, habe ich nicht selten den Eindruck, dass sie verloren sind, so ganz ohne festen Bezugspunkt im Leben. Gleichzeitig kann ich die Freuden der unbedingten Freiheit nur allzugut nachvollziehen. Ich lebe schließlich selbst gerade das freieste Leben, das ich mir ausmalen kann. Und dennoch weiß ich, dass es kein Konzept für die Ewigkeit ist. Der Wert der Grenzenlosigkeit wird sich gewiss mit der Zeit verbrauchen. Ohne Zuhause ist man nicht vollständig, gewissermaßen wurzellos. 

In St. Petersburg habe ich den V. getroffen. Der IT-Spezialist hat sein Zuhause früh aus den Augen verloren. Er ist in Indien aufgewachsen und als seine Eltern sich getrennt haben, hielt ihn nichts mehr in seiner Heimat. Er hat einige Jahre in Singapur und weitere Jahre im Silicon Valley gelebt. Heute, mit 26 Jahren, hat er ein Neues Zuhause für sich gefunden, in Hamburg. In fünf Jahren kann er Deutscher Staatsbürger werden und wenn man ihn sagen hört, dass er seinen indischen Pass am liebsten sofort in die Tonne kloppen würde, dann kauft man es ihm ab: Er ist zu Hause angekommen. 

Und wo ist mein Zuhause? In Europa? In Deutschland? In Berlin? In meiner Wohnung? Da wo meine Freunde und meine Liebsten sind? Da wo mein zukünftiger Job sein wird?

Im Moment ist mein Platz überall auf der Welt, aber eines Tages wird er wieder einen Namen tragen.