Über das Ankommen

„Sie sehen müde aus“, sagt der Taxifahrer, als er vom Europaplatz am Berliner Hauptbahnhof auf die Invalidenstraße abbiegt. „Ja, ich bin scheißmüde; ich war achteinhalb Monate unterwegs.“ Mehr als „Wow“ fällt ihm dazu nicht ein und so schweigen wir, während die Lichter der Stadt am Fenster vorbeiziehen. Es ist Samstagabend und am Rosenthaler Platz drängen sich die Touristen vor den Spätis.

Meine Wohnung steht noch, ist jedoch seit zwei Monaten verwaist und sieht auch so aus: Nicht warm, nicht gemütlich, nicht einladend und sauber wäre auch das falsche Wort. Mein altes Leben steht in verstaubten Kisten kreuz und quer in der Gegend rum. Immerhin muss ich keine zehn Dollar Pfand für den Zimmerschlüssel bezahlen und meine Wertsachen nicht mehr in einen Spind einschließen. Dafür muss ich mein Bett selbst beziehen. Ich setze mich auf eine der Kisten und reiße mir ein Bier auf. Ich genieße das Gefühl, einmal und die ganze verdammte Welt gereist zu sein.

Wenn man unterwegs ist, dann ist man immer selbst der Mittelpunkt der Welt, alles dreht sich um einen selbst. Aber jetzt bin ich bloß noch einer von 3,712 Millionen Einwohnern der Hauptstadt, der in seiner Wohnung auf einer Kiste sitzt. Und es ist nicht so, als hätte die Stadt auf mich gewartet; es ist ihr natürlich scheißegal ob ich hier oder sonst irgendwo auf der Welt sitze.

Genug Bestandsaufnahme für heute. Ich muss schlafen. Lange schlafen.

Als ich die Augen wieder öffne, scheint die Sonne. Ein Umstand der hier – Erzählungen nach – in den letzten Monaten eher unbekannt gewesen ist. The show musst go on, so viel steht mal fest. Ich putze die Wohnung, um sie wieder zu meinem Ort zu machen, packe die Kisten aus, sage den Nachbarn „Hallo“, kaufe banale Dinge wie Müllbeutel und was man eben so braucht, wenn man in einer Wohnung und nicht in einem Hostel wohnt. Ich telefoniere mit der Krankenkasse und mit dem Arbeitsamt und erstelle eine lange Checkliste, um die eingemottete Maschine namens „normales Leben“ wieder fit zu machen und ans Laufen zu bringen.

Erstmal tue ich jedoch, was ich mittlerweile am besten kann und verschaffe mir einen Überblick. Unter dem Vorwand Besorgungen machen zu müssen, leihe ich mir einen dieser Elektroroller und cruise kreuz und quer durch die Stadt, meine Stadt. Alles noch da, stelle ich fest: der Volkspark, der Fernsehturm, die Warschauer Straße, die Rummelsburger Bucht, der „Görli“, der „Kotti“, der Hermannplatz und selbst die verdammte Ringbahn kreist – wie vermutet – noch immer unermüdlich um das Herz der Stadt. An der Ecke Schönhauser esse ich im Schatten der Hochbahn bei Konnopke’s die erste Currywurst seit neun Monaten und beobachte die Massen, wie sie zum Flohmarkt am Mauerpark pilgern. War ich jemals weg? Obwohl mindestens eine Welt (und gefühlt ein halbes Leben) zwischen dem Berlin liegt, das ich zurückgelassen habe und dem, in das ich zurückgekehrt bin, fühlt es sich merkwürdig vertraut an. Für einen kurzen Moment fühlt es sich dann doch so an, als sei ich auf meiner Reise irgendwo angekommen.

Gut, denke ich, die Spielzeit mag eine neue sein, aber das Theater ist noch das alte. Und ich? Ich muss jetzt erstmal schauen, was hier so für Stücke aufgeführt werden und welche Rolle ich darin spielen will. Keine leichte Aufgabe, aber auch kein übler Zustand: Ich kann sein und werden, was ich will.

Die Leute sagen immer: „Wer seinen Hafen nicht kennt, dem ist kein Wind günstig.“ Aber vielleicht sind demjenigen dann auch einfach alle Winde günstig!? Da stehe ich also immer noch auf meinem metaphorischem Boot des Lebens, in gewisserweise immer noch unterwegs, immer noch mit unklarem Ziel, aber auch immer noch als Kapitän mit dem Steuer fest in der Hand und dem Blick voraus.

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