Seifenblasen

Ich verabschiede mich von den Dorfbewohnern in Navotua und lasse mich vom Kapitän in seiner Nussschale ein paar Inseln weiter südlich fahren. Das Wetter hat sich nicht verbessert und das nur drei Meter lange Boot juckelt im Gewittersturm über drei Meter hohe Wellen. Aber solange noch alle lachen, besteht sicher kein Grund zur Sorge – hoffe ich jedenfalls. Als ich an Bord des Yasawa-Flyers gehe, bin ich nass bis auf die Knochen und durchgefroren; durchgefroren inmitten der Südsee! Mein nächster Stop liegt auf einer der größeren Inseln und ist diesmal ein Resort. Es ist Zeit für eine „richtige“ Dusche und ein kaltes Bier. Natürlich ist so ein Resort nicht mehr das „echte Fidschi“, sondern das, was man in den Reisekatalogen findet: Blitzsauber, geharkte Strände, W-LAN. Ich bleibe gleich mal 6 Nächte, denn ich habe keine Lust mehr, alle zwei Tage aus- und wieder einzupacken, mit einem kleinem Boot zu einem größeren Boot zu fahren, um dann wieder auf eine Insel zu kommen, die bestimmt ganz ähnlich ist. Also richte ich es mir gemütlich ein, in dieser aus dem Katalog entsprungen Seifenblase.

Viel zu tun gibt es hier natürlich auch nicht, schließlich handelt es sich immer noch um eine einsame Insel und hier gibt es noch nichtmal ein Dorf in der Nähe. Immerhin kann man kleinere Hikes unternehmen, tauchen und schnorcheln. Nur 30 Meter von der Tür meines Dorms entfernt liegt eines der beeindruckendsten Korallenriffe, die ich jemals gesehen habe. Stunden verbringe ich hier und niemals wird es langweilig.

Das Wetter hat sich zum Glück gebessert, so dass ich draußen in der Sonne brutzeln kann und die strahlenden Farben in meiner Seifenblase genießen kann. Abends quatsche ich mit den kommenden und gehenden Island-Hoppern und tagsüber mit den Angestellten, die schon längst meinen Namen kennen und mir auch mal einen Gin-Tonic oder eine frisch geöffnete Kokosnuss zum Strand bringen. Ja, hier braucht man sich wirklich um nichts zu sorgen, außer vielleicht darum, dass einem eine dieser Kokosnüsse auf den Kopf fällt. Sogar die Haie hier sind freundlich. Zwar leben hier eine Menge Bullenhaie, aber die Einheimischen beteuern stets, dass die höchstens spielen wollen. Und tatsächlich steht sogar in diversen Reiseführern, dass Fidschi der einzige Ort auf der Welt sei, wo man auch ohne Käfig mit den Tieren tauchen kann. Warum das so ist, wird irgendwie nicht ganz klar, ist aber vielleicht auch egal. Wahrscheinlich sind auch die Haie hier „on Fiji-Time“ und haben schlicht keine Lust, von den Touristen zu kosten.

Wie dem auch sei, ich genieße das süße Nichtstun, während die einzige Entscheidung, die ich hier treffen muss, die Auswahl des nächsten Essens ist. Ich überlege noch, ob ich in einen luxuriösen Einzelbungalow umziehe, um diese kleine Flucht noch ein bisschen surrealer zu machen, denn ich weiß, schon ganz bald muss ich wieder weiter.

Die Wandstärke einer Seifenblase beträgt übrigens nur 0,0008 Millimeter; und niemals lebt sie unendlich.

Navotua – Wie weit ist weit weg?

Klar, Neuseeland ist geografisch weit weg von Berlin. Sibirien ist zwar geografisch nicht ganz so weit weg wie Neuseeland, dafür aber mental um so weiter. Und Navotua? Navotua ist beides. Mitten in der Südsee bin ich so weit weg von Zuhause – ja, von Allem – wie noch nie in meinem Leben. Hier, weit im Norden der fidschianischen Yasawa-Inseln, wo kein Touristen-Boot mehr hinfährt, wohne ich in einem traditionellen fijianischen Dorf in einer traditionellen fijianischen Bure. 25 Buren, einen „Shop“, indem es nur Reis und Mehl gibt, zwei Schulen und eine Kirche. Ich wollte das Ende der Welt finden und jetzt bin ich mir sicher, dass ich es gefunden habe. All meine groben Reiseplanungen endeten hier, am Ende der Welt, und nun stehe ich am Meer und blicke auf das, was man in Deutschland gemeinhin unter dem Paradies versteht. Ich habe viele kleine und große Paradiese auf meiner Reise entdeckt; in diesem regnet es gerade.

Auch wenn ich wohl nicht weiter weg reisen kann, fühlt es sich trotzdem nicht so an, als sei ich irgendwo angekommen. Nein, der Weg bleibt auch hier am Ende der Welt das Ziel.

Nach meiner Ankunft überreiche ich erstmal die Kawa-Wurzel, die ich in der Hauptstadt auf dem Mainland gekauft habe, an den Chief des Dorfes, um meinen Respekt zu erweisen. Er murmelt unverständliche Verse über der Wurzel – eine Art Ritual – und dann bin ich in die Dorfgemeinschaft aufgenommen. „Mein Dorf ist dein Dorf.“ „Vinaka vakalevu“, bedanke ich mich. Viel zu tun gibt es hier nicht, in meinem neuen Dorf, das für eine Woche mein Zuhause sein wird. Die Menschen leben in ihren einfachen Hütten anscheinend so in den Tag hinein, und außer dem Lehrer, dem Boots-Kapitän und dem Pfarrer scheint hier niemand irgendeiner geregelten Tätigkeit nachzugehen. Strom gibt es ohnehin nur für eine Stunde am Tag, wenn der Generator angeschmissen wird; mein Handy kann ich immerhin an einem Solar-Panel laden, und wenn ich den nahegelegenen Hügel erklimme, habe ich sogar einen Strich Empfang.

Viermal am Tag gibt es Essen, und für jede Mahlzeit bin ich bei einer anderen Familie des Dorfes zu Gast. Auch wenn die traditionellen Hütten nach bitterer Armut aussehen, hungern muss hier niemand. Das Meer gibt genug Essen für alle und jede Familie baut reichlich Obst und Gemüse an. Fisch, Krabben, Auberginen, Breadfruit, Pancakes, Krapfen, Dampfnudeln – Ich habe noch nie auf meiner Reise so viel gegessen wie hier. Der Fisch wird direkt vor dem Essen gefangen, denn Kühlschränke gibt es natürlich nicht. Die Krabben machen es einem sogar noch einfacher: Jetzt in der Brutzeit laufen sie von ihren Erdlöchern zum Meer, um ihre Eier abzulegen; auf dem Rückweg laufen sie dann manchmal geradeaus durch die Küchenburen direkt in die Kochtöpfe. Vom Kochen verstehen sie hier was. Alles schmeckt köstlich, auch wenn die Zubereitung vielleicht nicht ganz nach deutschen Hygiene-Standards abläuft und man den zahlreichen Fliegen besser auch nicht allzuviel Aufmerksamkeit widmet; und feuern sie den Herd etwa mit Diesel an oder was riecht hier so? Zum Essen gibt es Regenwasser; abgefülltes Trinkwasser braucht hier niemand und deshalb gibt es auch keins. Die Portionen sind so riesig, dass ich befürchte, hier eine Woche lang gemästet zu werden, um am Ende selbst das köstlichste aller Essen zu werden. Schließlich hat der Kannibalismus auf Fidschi eine lange Tradition und Mancher munkelt gar, dass auch heute noch der ein oder andere Mensch auf dem Grill landet.

Sie sind jedenfalls gute Gastgeber, die Fidschianer. Sie laden mich zu ihrer allabendlichen Kawa-Zeremonie ein, wo sie die Kawa-Wurzeln zu einem eigenartigen berauschenden Gebräu verarbeiten und in heiterer Gesellschaft bis in die frühen Morgenstunden verkonsumieren. Alkohol ist in Navotua schlicht nicht vorhanden, aber nach 50 Tassen Kawa fühle ich mich halb bekifft und halb betrunken. Alle hier sprechen passables Englisch und sind interessierte Gesprächspartner. Wenn ich erzähle, dass ich mal Anwalt war und nun um die ganze Welt reise, schäme ich mich ein wenig für das privilegierte Leben, das ich führe und für das die allermeisten meiner Gastgeber niemals eine Chance hatten. Selbst wenn einige der Jugendlichen aus dem Dorf auf dem Mainland studieren und eines Tages ein gutes Auskommen haben sollten, werden sie Fidschi vermutlich nie verlassen. Niemals würden sie ein Visum für ein anderes Land bekommen, noch nichteinmal für die anderen Staaten des Commonwealth. Und ich? Ich habe den mächtigsten Reisepass der Welt in der Tasche und kann in jedes Land der Erde einfach reinlatschen, als wäre ich ein Staatsbürger und dabei habe ich nichts, aber auch rein gar nichts dafür getan. Was für eine Ungerechtigkeit!

Am nächsten Tag gehe ich in die Schule, wo der Lehrer drei Klassen gleichzeitig unterrichtet und ein heilloses aber heiteres Durcheinander herrscht. Alle haben gute Laune und weil auch die Kleinsten passables Englisch sprechen, scheinen sie durchaus auch was zu lernen hier. Ich sehe mir das Treiben interessiert an, verstehe natürlich kein Wort, aber für die Kinder ist meine Anwesenheit eine willkommene Ablenkung vom Schulalltag, obwohl sie – daran besteht kein Zweifel – sehr gerne hier in der Schule sind. Es gibt wirklich erstaunlich viele Kinder hier im Dorf und ich spende einen verhältnismäßig großen Betrag für die Schule, weil ich (ein bisschen naiv) hoffe, dass das dazu beiträgt, dass die Kinder vielleicht auch eines Tages ihren Träumen hinterherjagen können – so wie ich heute. Außerdem erleichtert es mein schlechtes Gewissen ob der Tatsache, dass es reiner Zufall ist, dass sie hier geboren wurden und ich in Deutschland. Um Missverständnissen vorzubeugen: Es ist nicht so, dass es irgendetwas gibt, worum man die Dorfbewohner oder die Schulkinder bedauern müsste, ganz im Gegenteil. Alle sind gut gelaunt – viel besser als in Berlin – lachen und erfreuen sich des Lebens. Es gibt genug gutes Essen für Alle und die Kinder haben so viel Platz zum Spielen, wie wohl sonst nirgends auf der Welt. Das Leben hier ist leicht und es gibt nicht den geringsten Grund, irgendjemandem zu wünschen, hier „rauszukommen“. Für manch einen Westler mag das Leben hier im Einklang mit der Natur gar das ultimative Utopia sein. Aber der feine Unterschied bleibt eben doch, dass ich die Wahl habe und sie nicht. Ich könnte hier herziehen – wenn ich denn wollte – und fortan als Fischer mit nur drei Stunden Arbeit am Tag ein entspanntes Leben führen. Aber diese Kinder könnten eben nicht – selbst wenn sie denn wollten – in New York Medizin studieren und dort als Arzt arbeiten. Und bloß der Zufall hat darüber entschieden, dass ich die Wahl habe. Jedenfalls in diesem Leben.

In Navotua sind allerdings auch meinen Wahlmöglichkeiten Grenzen gesetzt: Hier gibt es kein Entertainment-Programm, weshalb ich die Tage mit Lesen und Schlafen verbringe. Ich kann hier tagsüber stundenlang schlafen – was ich sonst nie kann – und ich frage mich, ob sich hier gerade die Erschöpfung von Monaten Bahn bricht. Das Wetter sorgt schließlich dafür, dass ich auch nicht auf die Idee komme, hier zu Wandern oder zu Schnorcheln. In der Südsee ist Hurricane-Saison und mehr als einmal fürchte ich, dass mein winziges Hüttchen einfach vom Sturm davongetragen wird. Es scheint, als wäre erst hier – wo ich größtenteils zum Nichtstun verdammt bin – auch mein Körper in der Lage, einen Gang runterzuschalten. Nur einmal unternehme ich einen Ausflug in die nahegelegene Sawa-i-Lau-See-Höhle, die aus mehreren riesigen Kammern besteht, die man nur erreichen kann, indem man meterweit durch geflutete Gänge tauchen muss. Ansonsten gehe ich in den Dorfgottesdienst, wo der Pastor bei seiner Predigt so ekstatisch schreit, dass ich nicht sicher bin, ob er noch aus der Bibel predigt oder gerade dazu aufruft, das Nachbardorf zu überfallen. Am nächsten Tag wird dann noch dem zweiten Heiligtum der Fijianer gehuldigt, der Rugby-Nationalmannschaft. Zum Spiel gegen die USA kommen Junge und alte in der Schule zusammen, wo das Spiel – so gut es eben geht – auf einen alten Laptop gestreamt wird. Das Dorfleben steht still und auch der Lehrer hat seine Klasse im Nebenraum allein gelassen, wo derweil muntere Anarchie ausbricht. Nur 14 Minuten dauert so ein Spiel und heute verliert Fiji. Beim Rugby hört sie dann auf, die immergute Laune der Dorfbewohner.

Ich gehe zurück in meine Bure, und frage mich, wie ich bei diesem Sturm jemals wieder wegkommen soll von dieser Insel. Bis zum nächsten Resort ist es eine Dreiviertelstunde in einem winzigen Boot, das mir nicht sonderlich sturmfest zu sein scheint. Aber das ist morgen und hier auf Fidschi kümmert man sich nicht um morgen. Man kümmert sich um das Jetzt – wenn überhaupt.

Bula Fiji!

Bula! Sagt der Grenzbeamte, bevor er mir ohne viele Diskussionen den Einreisestempel in den Pass hämmert. Draußen merkt man, dass man wieder näher am Äquator ist. Bei schwülen 30 Grad schwitze ich mein T-Shirt durch, während ich eine Dreiviertelstunde auf meinen gebuchten Transfer warte. „Fiji-Time“ erklärt man mir euphorisch. Fiji-Time bedeutet, dass jeder macht, was er will und vor allem wann er es will. Mir soll es recht sein, ich habe keine Termine und zünde mir erstmal eine Zigarette neben einem „Rauchen verboten“-Schild an; es juckt niemanden. Die Leute sind hier entspannt und nicht solche Regel-Nazis wie in Neuseeland oder Australien.

Bevor ich auf die entlegenen Inseln aufbrechen kann, muss ich in Nadi, der Hauptstadt, noch einige Besorgungen machen. Der Linienbus mit dem ich für umgerechnet 50 Cent in die Stadt fahre, sieht aus, als hätte man ihn aus Kuba importiert, weil er selbst für Havanna zu antiquiert wirkt. Trotzdem muss ich eine Chipkarte kaufen und damit an einem brandneuen Computer-Terminal am Eingang des Busses den Fahrpreis entrichten. Irgendwie gefällt mir das alles.

Nadi ist wirklich nicht das, was man ein Kleinod nennt. Bisschen dreckig, bisschen laut, bisschen zwielichtig. Ich laufe durch die Gassen und suche den Bauernmarkt. Ich muss ein halbes Kilogramm der berauschenden Kawa-Wurzel auftreiben, denn ohne ein solches Gastgeschenk an den Häuptling sollte man sich in keinem fijianischen Dorf blicken lassen.

Auf dem Rückweg zum Busbahnhof beobachte ich das Treiben. Nepper und Schlepper quatschen mich von der Seite an: „Where are you from? What are you looking for?“ Kein Zweifel, hier bin ich wieder ein Fremder. Schlagartig wird mir klar, dass ich genau das in Neuseeland und Australien vermisst habe, dass ich dort eben kein Fremder war. Nur in der Fremde fühle ich mich wirklich wie ein Reisender; nur wenn ich keine Ahnung habe, kann ich mich wie ein Entdecker fühlen und nur, wenn man aufmerksam sein muss, ist man auch wirklich wach.