Balifornication

Mit dem Schnellboot geht es weiter westwärts nach Nusa Lembongan. Ich brauche eine Nacht in einem Privatbungalow, um mich von den Strapazen des Rinjani-Treks zu erholen, bevor ich mich Tags drauf wieder mit der K. treffe, die hier Tauchen lernen will. Lembongan ist als ausgezeichnetes Tauchrevier bekannt und auch ich tauche hier wieder ab und lasse mich zum „Advanced Adventurer Diver“ ausbilden, was immer das auch genau bedeuten mag.

Auf der Insel stelle ich fest, dass ich bislang wohl Glück hatte mit dem Wetter in Indonesien, denn eigentlich ist hier Regenzeit und das ist dem Wetter wohl auch gerade wieder eingefallen. Zum Glück ist das unter Wasser eher nebensächlich, aber wenn das Tauchboot zu den Dive-Sites rausfährt, muss man sich schon recht gut festhalten.

Nachdem wir alle Unterwassersehenswürdigkeiten abgeklappert haben, verbringen wir noch zwei Tage auf der Nachbarinsel Nusa Penida, die auch überirdisch einiges zu bieten hat. Was die Natur hergibt, besichtigen wir mit zwei Reiseabschnittsgenossinen allerdings gleich in Badeshorts bzw. Bikini; Nichts, gar Nichts würde hier auch nur eine Sekunde trocken bleiben. Der Tag halbnackt im 30 Grad warmen Dauersturzregen ist ein absurder Spaß – ja, man kann uns wirklich nicht vorwerfen, dass wir nicht das Beste aus der Situation machen. Die Sonne vermisse ich trotzdem langsam und dass die meisten meiner Klamotten mittlerweile nass sind und bei 120 Prozent Luftfeuchtigkeit auch niemals mehr trocknen werden (also sehr bald anfangen werden zu stinken), macht es auch nicht besser.

Um tags drauf mit dem Speedboat nach Bali zu kommen, müssen wir um halb sechs aufstehen, denn das ist offenbar die einzige Tageszeit, zu der das Meer die Überfahrt noch gestattet, bevor gegen Mittag Wind und Wellen die See wieder für sich allein beanspruchen.

Ich habe nur noch Zeit für eine Stadt auf Bali und so fällt die Wahl auf das Surfer-Paradies Canggu. Wir steigen im LayDay-Surfhostel ab, was für seine entspannte Atmosphäre und seine ab 9 Uhr morgens geöffnete Bar bekannt ist. Leider ist die Herberge ein bisschen weit ab vom Schuss, weshalb man jeden Weg mit dem Roller zurücklegen muss, was ziemlich ungünstig ist, wenn alle schon mittags anfangen zu saufen. Egal, wir können mit dem ersten Bier warten, bis alle Besorgungen in der Stadt erledigt sind. Nur abends wird die Lage zum Problem. Weil auch dieses Hostel Nachbarn hat, die gelegentlich mal schlafen müssen, geht um elf Uhr die Musik aus und alle fahren in die Stadt. Nun kann man in Canggu leider auch nicht einfach ein Uber oder ein Taxi bestellen, denn die lokale Mafia hat dafür gesorgt, das kein Taxifahrer, dem was an seiner Gesundheit oder seinem Gefährt liegt, hier noch irgendjemanden befördern würde. Gleichzeitig haben sie jedoch keine funktionierende Parallelinfrastruktur geschaffen. Canggus Straßen sind also jede Nacht vollgestopft mit Westerners, die in den abenteuerlichsten Zuständen in die Bars und Clubs fahren und gegen Morgen wieder zurück. Polizei gibt es hier nicht. Es ist natürlich unnötig zu erwähnen, dass die Leute sich hier in schöner Regelmäßigkeit umbringen, jedenfalls aber schwer verletzen. In Indonesien sterben schon mal 60 Rollerfahrer an einem einzigen Tag. Das scheint uns nicht übermäßig verlockend zu sein, was jedoch auf völliges Unverständnis stößt. Erzählt man, dass man betrunken lieber nicht fahren mag, reagieren die Leute, als würde man offenbaren, dass man aus Prinzip kein Smartphone benutze. Besoffen zu fahren ist hier so selbstverständlich wie eben besoffen zu sein. Wir finden trotzdem Wege, um von A nach B zu kommen, ohne selbst zu fahren. Nicht immer komfortabel, selten preisgünstig und oft unzuverlässig. Nachts warten die vierzehnjährigen Kids mit ihren Rollern vor den Bars und Clubs, um ihr Taschengeld aufzubessern. Es erscheint mir allemal sicherer, als bei meinen Hostelgenossen hinten aufzusteigen – sofern die überhaupt noch in der Lage sind, sich selbst auf den Roller zu schwingen. Nicht wenige fallen sofort mitsamt ihres Gefährts wieder um.

Natürlich lerne auch ich in Canggu Surfen. Wenn nicht hier, wo dann? In Australien will ich es schließlich schon können und hier sind Surfstunden noch bezahlbar. Es klappt überraschend gut. Zum Glück, denn ich habe nicht mehr ewig Zeit.

Seit ich in Indonesien bin, habe ich es immer bedauert, nicht mehr Zeit zu haben. Zwischenzeitlich habe ich sogar auf den (immer noch erwarteten) Ausbruch des Mount Agung gehofft. Ein gecancelter Flug ist hier ein gutes Argument für eine Visumsverlängerung.

Aber gerade jetzt, kurz vor meiner Abreise, fühlt es sich gar nicht mehr so verkehrt an, dass ich bald die Kurve kratze. Der Dauerregen schlägt auf die Stimmung und auch die K. und ich gehen uns jetzt manchmal auf die Nerven. Es ist eigentlich genau der richtige Zeitpunkt, um zu einem neuen sonnigen Kontinent, einer neuen Etappe aufzubrechen.

Den ersten Weihnachtstag verbringe ich noch im Hostel, wo Weihnachten im Grunde bedeutet, dass man einfach noch mehr trinkt als sonst. Mein Flug nach Melbourne geht um 23.00 Uhr und da ich später das Gate noch finden muss, kann ich leider nicht voll in die Feierlichkeiten miteinsteigen. Ein, zwei letzte Bintang-Biere, dann kommt mein Taxi. Der Fahrer überlässt mir die Musikauswahl und das Album „In Colour“ von Jamie xx wird der Soundtrack dieser letzten Autofahrt in Asien. Die Musik passt zu meiner Stimmung, die irgendwo zwischen melancholisch und freudiger Erwartung liegt. Draußen regnet es mal wieder und drinnen blase ich nachdenklich den Rauch der gefühlt hundertsten Zigarette an diesem Tag gegen die Windschutzscheibe. Die roten Rücklichter des chaotischen indonesischen Verkehrs spiegeln sich im Dunkeln auf der regennassen Fahrbahn und für die zehn Kilometer zum Flughafen brauchen wir über eine Stunde. Farewell Asia.

Die nagelneue Boing 787 riecht innen wie ein neues Auto und das Mädel am gegenüberliegenden Fenster schenkt mir ein Lächeln – einfach so. Ich schließe den Anschnallgurt. *klick*. Als das Flugzeug abhebt, läuft der tropische Regen in dicken Schlieren die großen Panoramafenster des Dreamliners entlang. Ich habe die Sitzreihe für mich allein, mache es mir gemütlich, und schlafe sofort ein.

True north

Nach einem weiteren Zwischenstopp in Hanoi brechen wir in den Norden auf, um zu Wandern und eine Motorradtour zu unternehmen. Der Norden gehört – glaubt man den Leuten – zu den „must sees“ in Vietnam. Aber was gehört hier eigentlich nicht dazu, in diesem vielseitigen Land? Traditionell ist Sapa im Norden der erste Anlaufpunkt, aber der Bus dorthin war im Hostel bereits ausgebucht. Am Busbahnhof finden wir einen Schlepper, der uns in unseriösester Weise zu einem anderen Busunternehmen überredet. Was solls? Sapa oder nicht Sapa ist hier die Frage.

Als wir in Sapa ankommen sehen wir: nichts. Die Stadt in den Bergen ist in dichten Nebel gehüllt und außerdem ist es bitterkalt. Überraschung: In Nord-Vietnam gibt es vier Jahreszeiten und gerade ist Winter. Hier hat man im November auch schon mal Schnee gesehen. Alles erinnert an einen Skiort in den Alpen: Bars mit Musik, Läden mit (allerdings gefälschten) North-Face-Klamotten und steile Bergstraßen. Für einen ganz kurzen Moment bekomme ich Lust, Ski zu fahren und vermisse den europäischen Winter. Der Moment ist allerdings wirklich sehr kurz und schnell wird uns klar, dass es keinen Grund für uns gibt, hier länger zu verweilen. Am nächsten Tag brechen wir also nach Ha Giang – ebenfalls im Norden – auf. Der Kleinbus ist dermaßen überfüllt und unbequem, dass die achtstündige Fahrt es mühelos in meine Top 5 der furchtbarsten Busfahrten auf dieser Reise schafft. Die mörderische Fahrweise des sogenannten Busfahrers wird auch nicht besser, als er seine Nerven in der Mittagspause mit einem großem Bier beruhigt; seine Lust auf asiatischen Trash-Techno in voller Lautstärke leider auch nicht.

In Ha Giang angekommen, ist das Wetter jedenfalls trocken und wir organisieren uns Motorräder. Eine Motorradtour gehört in Vietnam zum Pflichtprogramm und wer sich nicht gleich für 100 Dollar ein Motorrad kauft und damit quer durchs Land fährt, der mietet eben eins für ein paar Tage. Ursprünglich hatte ich das schon in Hoi An geplant, aber der Taifun Damrey hatte für den Landstrich zu der Zeit bekanntermaßen andere Pläne. Jetzt aber starten wir mit ca. 15 Leuten zum legendären „Northern Loop“. Unsere Karawane schlängelt sich die Serpentinen hoch und es ist ein großartiges Gefühl nach den ganzen Busfahrten endlich wieder selbst Gas zu geben. Die Straßen entsprechen ebensowenig europäischen Standards, wie die Verkehrssitten. Es geht durchaus abenteuerlich zu auf den engen Pässen. LKWs überholen einen bergab und wollen bergauf selbst überholt werden. Busse tauchen mit ungeheuerer Geschwindigkeit hinter den Felswänden auf und seine Begleiter muss man ebenfalls stets im Blick haben.

Da ich mit einigen Anderen eine zweistündige Hotpot-Mittagspause einlege, teilt sich die Gruppe am Nachmittag und weil mein Kumpel D. vietnamesisch spricht, pfeifen wir auf die Karte und auf Google Maps. Wir fragen die Einheimischen nach dem Weg. Ein Fehler, wie sich bald herausstellt, denn der uns gewiesene Weg ist zwar der kürzeste aber nicht der komfortabelste. Wir nehmen die Abkürzung und fahren direkt über den Berg. Die Straße, die auf keiner Karte verzeichnet ist, befindet sich in einem Zustand irgendwo zwischen zerstört und im Bau. Erdrutsche und Steinschläge bestimmen das Bild und unsere Motorräder ächzen unter der Last, als sie sich durch Schlamm und Geröll wühlen. Die Sichtweite beträgt zwischendurch weniger als zwei Meter und ich habe ein Skiunterhemd, drei T-Shirts, einen Hoodie, eine Softshelljacke und eine Regenjacke übereinander an. All das Zeug, das ich monatelang nutzlos mitgeschleppt habe, hat heute seine Daseinsberechtigung zurückerlangt. Wir fühlen uns wie richtige Abenteuerer, Pioniere im Nirgendwo. Dass es nicht ganz ungefährlich ist, macht das Gefühl nur intensiver. Das hier ist kein Sprung an einem TÜV-geprüften Bungee-Seil, das ist das wahre Leben und wir fühlen uns sehr lebendig in diesem Moment.

Als wir Abends im Homestay mit 20er-Schlafsaal die anderen wieder treffen und wir nach der ersten Etappe bei Bier und Musik zusammensitzen, erlebe ich einen dieser kostbaren Momente von Glückseligkeit. Einer der Momente, in denen man erkennt, dass es gut ist, wie es ist; in denen man weiß, warum man hier draußen ist und nicht im Neonlicht irgendeines Büros. Kein abgeschlossenes Projekt und kein gewonnenes Gerichtsverfahren vermögen diesen wahrhaftigen Rausch zu erzeugen. Es geht mir nicht allein so.

Die nächsten beiden Tage sind wettertechnisch eine Herausforderung. Nässe, Nebel und Kälte machen uns zu schaffen. Wir kämpfen mit den Unzulänglichkeiten unserer Maschinen: Die Herausforderung einen steilen Pass hinabzufahren wird ohne Bremsbelege nicht gerade kleiner. „Vietnam halt“, sagen wir uns und lachen. Was will man auch erwarten für fünf Dollar am Tag? Belohnt werden wir mit atemberaubenden Ausblicken und dem Gefühl unbegrenzter Freiheit. Am Ende bin ich froh, dass es noch geklappt hat mit mir, Vietnam und dem Motorrad. Von kleineren Stürzen mal abgesehen haben wir das Abenteuer alle heil überstanden. Vielleicht werde ich eines Tages zurückkommen und das Land komplett mit dem Motorrad bereisen.

Dann aber im Sommer.

Die Stadt, die Lichter

Als ich in Saigon den rostigen Bus verlasse, funkelt die Stadt mich an. Hochhäuser, Musik, Gucci. Nur fünf oder sechs Stunden Busfahrt trennen mich von Phnom Penh und doch bin ich in einer anderen Welt. 

Kambodschas Wirtschaft mag boomen im Vergleich zu Vietnam, aber hier ist man in einer gewachsenen Megacity mit jahrhunderte alter Geschichte und Hauptstadt-Flair. Und Hauptstadt war Saigon ja auch mal, bevor man ihr 1975 den umständlichen Namen Ho-Chi-Minh-Stadt gegeben hat, weil die Geschichte so verlief, wie sie nun mal eben verlief – nämlich kompliziert. 

Es nervt mich ein bisschen, dass ich so wenig davon weiß, wie die Region zu dem geworden ist, was sie ist und so kaufe ich mir das Buch „Der Tod im Reisfeld“, gehe ins Kriegsmuseum und besichtige ein ehemaliges Schlachtfeld. Im Westen von Saigon hat der Vietcong ein Tunnelsystem über drei Ebenen mit einer Gesamtlänge von 200 Kilometern angelegt. Die Tunnel haben einen Durchmesser von maximal 50 Zentimetern und als ich probehalber 100 Meter im Tunnel mit meinem Rucksack zurücklege, bleibe ich nur deshalb nicht stecken, weil der Schweiß mir bei 40 Grad und 100% Luftfeuchtigkeit im Tunnel in Bächen vom Körper rinnt und als Schmiermittel fungiert. 


Ich stelle mir vor, wie es ist, aus diesen Maulwurfsgängen heraus eine Schlacht zu schlagen. Sie müssen schon verdammt harte Krieger gewesen sein, die Vietcong-Kämpfer. Überhaupt kann man sich hier ganz gut ein Bild davon machen, wie es wohl gewesen sein mag, damals. Die Szenerie ist von ohrenbetäubenden Maschinengewehr-Salven untermalt, denn hier dürfen sich die Touristen mit allem austoben, was in Deutschland so unter das Kriegswaffenkontrollgesetz fällt. Es ist absurd, aber weniger absurd als in Kombodscha neben den „Killing Fields“, wo es ebenfalls „Feuer frei“ für die Touristen hieß. Auf diesem Schlachtfeld wurde immerhin ein richtiger Krieg geführt, mit Soldaten und so. 

Zurück in der Stadt konzentriere ich mich wieder auf die schönen Dinge des Lebens, Essen zum Beispiel. Kulinarisch wird es ab jetzt steil bergauf gehen. Vietnam ist ein Foodmekka, das Essen ist sogar noch ein bisschen geiler als in Thailand. Die vielen Garküchen in Saigon kommen mir seltsam vertraut vor, denn seit vielen Jahren sorgt der Si An-Clan in Berlin dafür, dass man auch bei uns exzellentes vietnamesisches Essen in diversen Restaurants mit authentischem Ambiente genießen kann. Und tatsächlich kann nicht jede Pho-Suppe in Saigon mit dem mithalten, was man in Berlin geboten kriegt. Dafür ist es allerdings lächerlich günstig und so bleibt noch genug Geld fürs Nachtleben übrig. 

Wenn es dunkel wird, erwachen die Bars und Clubs zum Leben. Die Vietnamesen wissen jedenfalls, wie man feiert. Die kleinen Bars in den Seitengassen haben ihre typischen winzigen Pastikhöckerchen auf den Gehsteig gestellt und die Musik aufgedreht. Die Gefahren des Nachtlebens gehen hier nicht von bewaffneten Bonzenkindern aus, sondern eher vom Straßenverkehr. In der Stadt der Roller gibt es keinen Stau wie in Bangkok, hier ist alles immer in Bewegung. 

Angeblich gibt es hier 5 Millionen Motobikes auf 7 Millionen Einwohner. Mit einem Roller kann man überall fahren: auf den Bürgersteigen und sogar auf der falschen Straßenseite. Niemand beachtet die Ampeln auch nur ansatzweise. Den deutschen Reflex, bei grün auf die Straße zu treten, kann man hier schnell mit dem Leben bezahlen – vor allem wenn man schon das ein oder andere Bier getrunken hat und die Wachsamkeit dem beschwingten Leichtsinn weicht. Der Verkehrsstrom reißt niemals ab. Wenn man nicht irgendwann einfach auf die Straße tritt und darauf vertraut, dass die Rollerfahrer schon ausweichen werden, wird man für immer auf einer Seite gefangen sein. 

Es ist ein ganz und gar faszinierendes Chaos hier, dessen Ausmaß sich erst bei Nacht von einer der zahllosen Rooftop-Bars in Gänze bestaunen lässt. In den Häuserschluchten reihen sich nicht ordentlich die Lichterpaare der Autos hintereinander, hier zwängen sich abertausende einzelner kleiner Glühwürmchen durch jedes Nadelöhr, das sich ihnen öffnet. Die Straßen sehen von oben aus, wie Flüsse voll von fluoreszierendem Plankton. Alles scheint jedoch trotzdem irgendeiner Ordnung zu folgen, so wie auch das Gewusel in einem Ameisenhaufen irgendeiner Ordnung folgt, die dem äußeren Betrachter nur verborgen bleibt.


Vom unaufhörlichen Menschenstrom lasse ich mich noch ein Stück in die Nacht treiben, bevor ich weiter Richtung Süden reise.