Empire State of Mind

Im Greyhound-Bus nach Sydney versuche ich mehr oder weniger erfolgreich zu schlafen. Zwar spart man durch nächtliche Busfahrten eine Hostelübernachtung, dafür fühlt man sich am nächsten Tag jedoch, als hätte man zusammengefaltet in einer Umzugskiste genächtigt. Dummerweise habe ich kürzlich auch noch mein Nackenkissen verloren – Position 24 auf der Liste der verlorenen Dinge. Wer im Schnitt alle vier Tage alles ein- und auspackt, hinterlässt eine Spur verlorener Dinge. Das Nackenkissen vermisse ich allerdings schmerzlich, als ich alle erdenklichen Positionen durchprobiere, um wenigstens ein Stündchen Schlaf zu finden. Es ist zwei Uhr als die Müdigkeit mich endgültig übermannt.

Ich öffne die Augen erst wieder, als der Busfahrer irgendwas in seinem breiten australischen Dialekt ins Mikro faselt, von dem ich vielleicht 25 Prozent verstehe.

Moment, wie lange habe ich geschlafen? Durch meine halb geöffneten Augen sehe ich die Skyline von New York in der morgendlichen Sonne durch die Streben der Manhattan-Bridge funkeln. Kann das sein? Ist der Bus über den Pazifik gefahren? Als die Schlaftrunkenheit weicht, erkenne ich, dass es nicht New York ist, sondern Sydney – das Setting ist allerdings verdammt ähnlich: Brücke, Hafen, Skyline. Wer bei der Fahrt über die Harbour-Bridge nach links aus dem Fenster sieht, könnte auch annehmen er fährt gerade über den East River. Ich habe einen Flashback und erinnere mich daran, wie ich vor zehn Jahren das erste Mal über die Manhattan-Bridge nach New York reingefahren bin, in diese Stadt, die so lange ein zentraler Sehnsuchtsort in meinem Leben war – auch, weil sie so viele Orte dieser Welt in sich vereint.

Aber das hier ist ja, wie gesagt, nicht New York sondern Sydney. Trotzdem hat die Metropole Weltstadt-Flair. Sirenen heulen in den Straßenschluchten und startende und landende Flugzeuge reihen sich wie an einer Perlenkette im wolkenlosen Himmel auf. In dieser Art von Großstädten fühle ich mich zu Hause, und ich kann kein bisschen verstehen, warum die meisten Reisenden, die ich unterwegs getroffen habe, von Sydney überhaupt nicht angetan waren.

Ich wohne in einem zentral gelegenen Top-Hostel, dessen Dachterrasse einen hervorragenden Blick auf die Skyline freigibt. Es gibt hier nicht viele Must-See-Sehenswürdigkeiten, so dass ich einfach planlos auf Erkundungstour gehe, wann immer mir danach ist. Zu Fuß loszuziehen ist für mich der ultimative Weg eine Stadt zu erkunden und zu erobern. Dem Fußgänger entgeht nichts. Keine Seitengasse, kein Café, kein winziges Geschäft, kein vietnamesisches Streetfood und keine versteckte Streetart. Stundenlang laufe ich so durch die Stadt, mit Musik im Ohr und der Kakophonie der Großstadt als Hintergrundrauschen.

Sydney macht mir gute Laune, extrem gute Laune. Warum, kann ich gar nicht genau sagen; vielleicht ist es nur die Vorfreude auf Neuseeland. Öfters schon habe ich mich dabei ertappt, wie die Vorfreude auf das nächste Ziel beinahe die Freuden der Gegenwart überstrahlt. Vielleicht ist es aber auch nur die immer strahlende Sonne, oder die immerfreundlichen Australier, die einem zu jeder Gelegenheit ein „Cheers Mate!“ zurufen, wobei „Cheers“ das australische Universalwort für „Hallo, Tschüss, Bitte, Danke“ und noch so einiges mehr ist. Sie scheinen wirklich immer gut gelaunt zu sein, diese Aussies und vielleicht springt das ja gerade ein wenig auf mich über.

Ich habe mich auf die andere Seite des Hafens zurückgezogen, von wo aus ich – die Oper und die Brücke im Blick – der untergehenden Sonne zusehe. Ein Kreuzfahrtschiff größer als der Berliner Hauptbahnhof parkt gerade aus und verschwindet in den Weiten des Pazifik. Während die Bugwellen gegen das Ufer plätschern, fällt mir auf, dass ich schon ein halbes Jahr unterwegs bin. Fertig bin ich aber noch lange nicht, nein, ich bin immer noch hungrig.

In ein paar Tagen werde auch wieder in einem der Flugzeuge sitzen, die gerade über der Skyline im Nachthimmel zu immer kleineren Punkten werden, und noch immer fühlt es sich gut an, ein rastloser Nomade zu sein.

KL

KL, so nennen Einheimische (und jeder, der das mal aufgeschnappt hat – also auch ich) die Hauptstadt Malaysias, Kuala Lumpur. Ich mache hier ein paar Tage Zwischenstopp und weil ich mal irgendwo gelesen habe, dass man hier in 5-Sterne-Hotels für den Preis einer Tankfüllung absteigen kann, sitze ich gerade in einem 40-Quadratmeter-Zimmer mit Blick auf die Skyline und im einem Klo mit integriertem Bidet.

Lustig, denke ich: Gestern habe ich noch in einer runtergerockten Hanoier Altstadt-Bar Happy-Ballons konsumiert und heute lasse ich mich mit „Sir“ anreden und muss mich im „Club“ des Hotels an den Dresscode halten. From rags to riches; na ja nicht ganz, denn in meinem Budget sind solche Eskapaden eigentlich nicht vorgesehen. Aber was soll’s? Ich mache hier eh was ich will.

Kuala Lumpur ist auf eine Art eine unwirkliche Stadt. Eine Stadt, von der man weiß, dass sie existiert aber auch nicht viel mehr. Natürlich kannte ich die ikonische Skyline mit den Petronas-Twin-Towers, aber ehrlich gesagt, wusste ich vor ein paar Jahren noch nichtmal wo Malaysia genau liegt.

Ich nutze meine Luxussuite zum Durchatmen, ich fühle nämlich eine leichte Reiseerschöpfung. Es ist kein Heimweh, aber mein Interesse an der Stadt da unten vor meinem Fenster hält sich gerade irgendwie in Grenzen. An meinem riesigen Schreibtisch schreibe ich ein paar längst überfällige E-Mails und skype mit diversen Menschen, die mir wichtig sind.

Nachdem die Twin-Towers erklommen und die wichtigsten Eckpunkte der Stadt abgegrast sind, packe ich meinen Rucksack, um zum Flughafen zu fahren. Strand und Sonne auf Bali werden mein Gemüt schon wieder aufhellen. Eine Stunde bevor ich los will, checke ich nochmal den Flugstatus und stelle fest, was nicht ganz unvorhersehbar war, bislang jedoch von meiner optimistischen Einstellung erfolgreich beiseite geschoben wurde: Der Flug ist wegen des Vulkanausbruchs gestrichen. Das fällt AirAsia natürlich drei Stunden vor Abflug ein und das, obwohl der Flughafen auf Bali noch nichtmal geschlossen ist – im Gegensatz zu dem auf Lombok, weshalb spontanes Ausweichen dorthin auch nicht möglich ist.

Immerhin bin ich noch nicht am Flughafen und ziehe erstmal in ein Hostel um, um die laufenden Kosten wieder auf ein handhabbares Niveau zu drücken. Im Hostel suche ich andere Flugrouten nach Indonesien; ich bin allerdings nicht der einzige und die Preise gehen durch die Decke.

Eigentlich wollte ich auch die S. – mit der ich schon zusammen auf der Transsib war – auf Bali treffen. Lange haben wir überlegt, wann und wo sich unsere Wege wieder kreuzen würden. Die letzte Gelegenheit ist nun vom Vulkan endgültig weggepustet worden.

Jetzt fühle ich mich noch erschöpfter. Ich gehe eine Runde spazieren, aber die Stadt nervt mich. Als ich – wieder im Hostel – auf meinem Bett liege, vibriert mein Handy. Ich hatte meinen Vermieter gefragt, ob er die Untervermietung meiner Wohnung noch ein paar Monate länger genehmigen würde. Er schreibt, ich solle die Wohnung gleich komplett an ihn zurückgeben, „das wäre wohl für alle das Beste“. Ich habe ja schon immer geahnt, dass er wahnsinnig ist und war froh, dass er mich bislang in Ruhe gelassen hat. Jetzt hab ich es schwarz auf weiß, dass er nicht mehr alle Tassen im Regal hat. Natürlich ist mir klar, dass er mich nicht einfach rauswerfen kann, aber die Vorstellung, das mit ihm vom Ende der Welt aus zu diskutieren, lässt Übelkeit in mir aufkommen. Die Vorstellung einige Monate auf die Mietzahlungen der Untermieterin zu verzichten auch.

Ich möchte den Mülleimer in meinem Dorm weggetreten, aber ich bin zu müde. Ich fühle ich mich leer und ein wenig verloren. Nicht, weil mich die Sache mit der Wohnung finanziell ruinieren würde oder weil ich ernsthaft befürchte, keinen Weg nach Indonesien zu finden, es ist einfach ein kurzzeitiger Krisenzustand, hervorgerufen durch widrige Umstände gepaart mit Erschöpfung. Jeder Reisende kennt das Gefühl, wenn mal alles zu viel wird und man nur noch kotzen möchte. Ja, auch das gehört dazu und es trifft Jeden mal. Vielleicht muss es ja so sein, denke ich, vielleicht kann man die Hochs ohne die Tiefs ja auch gar nicht richtig wertschätzen. Solche pseudoschlauen Erkenntnisse helfen in der Situation selbst aber natürlich kein bisschen weiter.

Ich gehe runter ins Restaurant, bestelle Essen, habe aber keinen Hunger. Eigentlich will ich ins Bett und diesem Tag durch Schlaf endgültig entfliehen, aber ich bin ruhelos. Ich gehe in die Rooftop-Bar und trinke den Gin-Tonic, den jeder Gast als Welcome-Drink bekommt. Ich suche Zuspruch und körperliche Nähe und finde sie bei einer anderen Backpackerin, die dort ebenfalls allein sitzt.

Am nächsten Tag kommt die K. ins Hostel. Der ausgefallene Flug hat uns ein unerwartetes Wiedersehen beschert. Auch sie kennt natürlich diese kleinen Krisen, die einen dann und wann ereilen. Wir betrinken uns auf der Dachterrasse und versinken in endlose Gespräche über das Reisen und das Leben, während die Petronas-Towers in der Skyline funkeln, als sei das hier New-York. Irgendwie surreal alles.

Am nächsten Morgen buche ich beim Frühstück Flüge nach Singapur und Flores, während die Sonne sich langsam ihren Weg durch die Wolken bahnt.

Silver lining.

Die Stadt, die Lichter

Als ich in Saigon den rostigen Bus verlasse, funkelt die Stadt mich an. Hochhäuser, Musik, Gucci. Nur fünf oder sechs Stunden Busfahrt trennen mich von Phnom Penh und doch bin ich in einer anderen Welt. 

Kambodschas Wirtschaft mag boomen im Vergleich zu Vietnam, aber hier ist man in einer gewachsenen Megacity mit jahrhunderte alter Geschichte und Hauptstadt-Flair. Und Hauptstadt war Saigon ja auch mal, bevor man ihr 1975 den umständlichen Namen Ho-Chi-Minh-Stadt gegeben hat, weil die Geschichte so verlief, wie sie nun mal eben verlief – nämlich kompliziert. 

Es nervt mich ein bisschen, dass ich so wenig davon weiß, wie die Region zu dem geworden ist, was sie ist und so kaufe ich mir das Buch „Der Tod im Reisfeld“, gehe ins Kriegsmuseum und besichtige ein ehemaliges Schlachtfeld. Im Westen von Saigon hat der Vietcong ein Tunnelsystem über drei Ebenen mit einer Gesamtlänge von 200 Kilometern angelegt. Die Tunnel haben einen Durchmesser von maximal 50 Zentimetern und als ich probehalber 100 Meter im Tunnel mit meinem Rucksack zurücklege, bleibe ich nur deshalb nicht stecken, weil der Schweiß mir bei 40 Grad und 100% Luftfeuchtigkeit im Tunnel in Bächen vom Körper rinnt und als Schmiermittel fungiert. 


Ich stelle mir vor, wie es ist, aus diesen Maulwurfsgängen heraus eine Schlacht zu schlagen. Sie müssen schon verdammt harte Krieger gewesen sein, die Vietcong-Kämpfer. Überhaupt kann man sich hier ganz gut ein Bild davon machen, wie es wohl gewesen sein mag, damals. Die Szenerie ist von ohrenbetäubenden Maschinengewehr-Salven untermalt, denn hier dürfen sich die Touristen mit allem austoben, was in Deutschland so unter das Kriegswaffenkontrollgesetz fällt. Es ist absurd, aber weniger absurd als in Kombodscha neben den „Killing Fields“, wo es ebenfalls „Feuer frei“ für die Touristen hieß. Auf diesem Schlachtfeld wurde immerhin ein richtiger Krieg geführt, mit Soldaten und so. 

Zurück in der Stadt konzentriere ich mich wieder auf die schönen Dinge des Lebens, Essen zum Beispiel. Kulinarisch wird es ab jetzt steil bergauf gehen. Vietnam ist ein Foodmekka, das Essen ist sogar noch ein bisschen geiler als in Thailand. Die vielen Garküchen in Saigon kommen mir seltsam vertraut vor, denn seit vielen Jahren sorgt der Si An-Clan in Berlin dafür, dass man auch bei uns exzellentes vietnamesisches Essen in diversen Restaurants mit authentischem Ambiente genießen kann. Und tatsächlich kann nicht jede Pho-Suppe in Saigon mit dem mithalten, was man in Berlin geboten kriegt. Dafür ist es allerdings lächerlich günstig und so bleibt noch genug Geld fürs Nachtleben übrig. 

Wenn es dunkel wird, erwachen die Bars und Clubs zum Leben. Die Vietnamesen wissen jedenfalls, wie man feiert. Die kleinen Bars in den Seitengassen haben ihre typischen winzigen Pastikhöckerchen auf den Gehsteig gestellt und die Musik aufgedreht. Die Gefahren des Nachtlebens gehen hier nicht von bewaffneten Bonzenkindern aus, sondern eher vom Straßenverkehr. In der Stadt der Roller gibt es keinen Stau wie in Bangkok, hier ist alles immer in Bewegung. 

Angeblich gibt es hier 5 Millionen Motobikes auf 7 Millionen Einwohner. Mit einem Roller kann man überall fahren: auf den Bürgersteigen und sogar auf der falschen Straßenseite. Niemand beachtet die Ampeln auch nur ansatzweise. Den deutschen Reflex, bei grün auf die Straße zu treten, kann man hier schnell mit dem Leben bezahlen – vor allem wenn man schon das ein oder andere Bier getrunken hat und die Wachsamkeit dem beschwingten Leichtsinn weicht. Der Verkehrsstrom reißt niemals ab. Wenn man nicht irgendwann einfach auf die Straße tritt und darauf vertraut, dass die Rollerfahrer schon ausweichen werden, wird man für immer auf einer Seite gefangen sein. 

Es ist ein ganz und gar faszinierendes Chaos hier, dessen Ausmaß sich erst bei Nacht von einer der zahllosen Rooftop-Bars in Gänze bestaunen lässt. In den Häuserschluchten reihen sich nicht ordentlich die Lichterpaare der Autos hintereinander, hier zwängen sich abertausende einzelner kleiner Glühwürmchen durch jedes Nadelöhr, das sich ihnen öffnet. Die Straßen sehen von oben aus, wie Flüsse voll von fluoreszierendem Plankton. Alles scheint jedoch trotzdem irgendeiner Ordnung zu folgen, so wie auch das Gewusel in einem Ameisenhaufen irgendeiner Ordnung folgt, die dem äußeren Betrachter nur verborgen bleibt.


Vom unaufhörlichen Menschenstrom lasse ich mich noch ein Stück in die Nacht treiben, bevor ich weiter Richtung Süden reise.