Nach einem weiteren Zwischenstopp in Hanoi brechen wir in den Norden auf, um zu Wandern und eine Motorradtour zu unternehmen. Der Norden gehört – glaubt man den Leuten – zu den „must sees“ in Vietnam. Aber was gehört hier eigentlich nicht dazu, in diesem vielseitigen Land? Traditionell ist Sapa im Norden der erste Anlaufpunkt, aber der Bus dorthin war im Hostel bereits ausgebucht. Am Busbahnhof finden wir einen Schlepper, der uns in unseriösester Weise zu einem anderen Busunternehmen überredet. Was solls? Sapa oder nicht Sapa ist hier die Frage.
Als wir in Sapa ankommen sehen wir: nichts. Die Stadt in den Bergen ist in dichten Nebel gehüllt und außerdem ist es bitterkalt. Überraschung: In Nord-Vietnam gibt es vier Jahreszeiten und gerade ist Winter. Hier hat man im November auch schon mal Schnee gesehen. Alles erinnert an einen Skiort in den Alpen: Bars mit Musik, Läden mit (allerdings gefälschten) North-Face-Klamotten und steile Bergstraßen. Für einen ganz kurzen Moment bekomme ich Lust, Ski zu fahren und vermisse den europäischen Winter. Der Moment ist allerdings wirklich sehr kurz und schnell wird uns klar, dass es keinen Grund für uns gibt, hier länger zu verweilen. Am nächsten Tag brechen wir also nach Ha Giang – ebenfalls im Norden – auf. Der Kleinbus ist dermaßen überfüllt und unbequem, dass die achtstündige Fahrt es mühelos in meine Top 5 der furchtbarsten Busfahrten auf dieser Reise schafft. Die mörderische Fahrweise des sogenannten Busfahrers wird auch nicht besser, als er seine Nerven in der Mittagspause mit einem großem Bier beruhigt; seine Lust auf asiatischen Trash-Techno in voller Lautstärke leider auch nicht.
In Ha Giang angekommen, ist das Wetter jedenfalls trocken und wir organisieren uns Motorräder. Eine Motorradtour gehört in Vietnam zum Pflichtprogramm und wer sich nicht gleich für 100 Dollar ein Motorrad kauft und damit quer durchs Land fährt, der mietet eben eins für ein paar Tage. Ursprünglich hatte ich das schon in Hoi An geplant, aber der Taifun Damrey hatte für den Landstrich zu der Zeit bekanntermaßen andere Pläne. Jetzt aber starten wir mit ca. 15 Leuten zum legendären „Northern Loop“. Unsere Karawane schlängelt sich die Serpentinen hoch und es ist ein großartiges Gefühl nach den ganzen Busfahrten endlich wieder selbst Gas zu geben. Die Straßen entsprechen ebensowenig europäischen Standards, wie die Verkehrssitten. Es geht durchaus abenteuerlich zu auf den engen Pässen. LKWs überholen einen bergab und wollen bergauf selbst überholt werden. Busse tauchen mit ungeheuerer Geschwindigkeit hinter den Felswänden auf und seine Begleiter muss man ebenfalls stets im Blick haben.
Da ich mit einigen Anderen eine zweistündige Hotpot-Mittagspause einlege, teilt sich die Gruppe am Nachmittag und weil mein Kumpel D. vietnamesisch spricht, pfeifen wir auf die Karte und auf Google Maps. Wir fragen die Einheimischen nach dem Weg. Ein Fehler, wie sich bald herausstellt, denn der uns gewiesene Weg ist zwar der kürzeste aber nicht der komfortabelste. Wir nehmen die Abkürzung und fahren direkt über den Berg. Die Straße, die auf keiner Karte verzeichnet ist, befindet sich in einem Zustand irgendwo zwischen zerstört und im Bau. Erdrutsche und Steinschläge bestimmen das Bild und unsere Motorräder ächzen unter der Last, als sie sich durch Schlamm und Geröll wühlen. Die Sichtweite beträgt zwischendurch weniger als zwei Meter und ich habe ein Skiunterhemd, drei T-Shirts, einen Hoodie, eine Softshelljacke und eine Regenjacke übereinander an. All das Zeug, das ich monatelang nutzlos mitgeschleppt habe, hat heute seine Daseinsberechtigung zurückerlangt. Wir fühlen uns wie richtige Abenteuerer, Pioniere im Nirgendwo. Dass es nicht ganz ungefährlich ist, macht das Gefühl nur intensiver. Das hier ist kein Sprung an einem TÜV-geprüften Bungee-Seil, das ist das wahre Leben und wir fühlen uns sehr lebendig in diesem Moment.
Als wir Abends im Homestay mit 20er-Schlafsaal die anderen wieder treffen und wir nach der ersten Etappe bei Bier und Musik zusammensitzen, erlebe ich einen dieser kostbaren Momente von Glückseligkeit. Einer der Momente, in denen man erkennt, dass es gut ist, wie es ist; in denen man weiß, warum man hier draußen ist und nicht im Neonlicht irgendeines Büros. Kein abgeschlossenes Projekt und kein gewonnenes Gerichtsverfahren vermögen diesen wahrhaftigen Rausch zu erzeugen. Es geht mir nicht allein so.
Die nächsten beiden Tage sind wettertechnisch eine Herausforderung. Nässe, Nebel und Kälte machen uns zu schaffen. Wir kämpfen mit den Unzulänglichkeiten unserer Maschinen: Die Herausforderung einen steilen Pass hinabzufahren wird ohne Bremsbelege nicht gerade kleiner. „Vietnam halt“, sagen wir uns und lachen. Was will man auch erwarten für fünf Dollar am Tag? Belohnt werden wir mit atemberaubenden Ausblicken und dem Gefühl unbegrenzter Freiheit. Am Ende bin ich froh, dass es noch geklappt hat mit mir, Vietnam und dem Motorrad. Von kleineren Stürzen mal abgesehen haben wir das Abenteuer alle heil überstanden. Vielleicht werde ich eines Tages zurückkommen und das Land komplett mit dem Motorrad bereisen.
Dann aber im Sommer.