Fledermausland

Als ich in Cairns den Nachtmarkt verlasse und auf die Straße trete, komme ich mir einen Moment vor, wie Raoul Duke in der Wüste Nevadas. Ich sehe überall Fledermäuse und zwar nicht diese kleinen niedlichen, die ab und an von Höhlendecken hängen, sondern eher so das Modell „mutierter Riesenvampir“; jedenfalls nicht das, was man im Stadtzentrum erwartet. Mein Gesichtsausdruck dürfte daher auch in etwa genauso skeptisch, wie der von Duke gewesen sein, als ich inmitten der Abertausenden Tiere, die eine Flügelspannweite von bis zu 1,50 Meter besitzen, gen Himmel blicke. Im Gegensatz zu Duke bin ich jedoch nicht der Einzige, der die Flughunde – so die korrekte Bezeichnung – sehen kann. Zig Asiaten wussten natürlich schon vorher bestens über dieses täglich bei Dämmerung stattfindende Schauspiel Bescheid und versuchen schon fleißig, sich mit ihren Selfie-Sticks die Augen auszustechen. Auch ich mache ein paar Fotos mit meinem Handy, das aber (wie immer) nicht in der Lage ist, die ganze Dramatik des Augenblicks einzufangen.

Ich erfahre, dass die Tiere hier tagsüber in der Stadt in ihren „Wohnbäumen“ abhängen und dann bei Einbruch der Dämmerung zu ihren Fressplätzen aufbrechen. Das war mir bislang gar nicht aufgefallen, obwohl es hier angeblich mehr Flughunde als Vögel gibt.

Überhaupt ist die Natur in Australien eine Stufe verrückter, als überall sonst auf der Welt. Jedes Tier ist zwei Nummern größer und giftiger als auf dem Rest des Planeten. Von oben grüßen Kakadus und von unten metergroße Echsen. Wie in einem riesigen Zoo ohne Käfige.

Auch sonst mangelt es nicht an Superlativen, zum Beispiel dem Great Barrier Reef. Das Korallenriff ist die Größte von Lebewesen geschaffene Struktur auf der Erde und weil sie vielleicht bald auch die größte von Lebewesen wieder zerstörte Struktur auf der Erde sein wird, beeile ich mich, dort noch ein paar Tauchgänge zu unternehmen. Ich bin nicht als einziger auf die Idee gekommen. Ein Ausflug zum Riff ist eine Massenveranstaltung. Circa 80 Taucher und Schnorchler sind auf dem Boot. Einzelne Gruppen werden per Lautsprecherdurchsage aufgefordert ins Wasser zu springen und es bleibt kaum Zeit, die Ausrüstung in Ruhe zu überprüfen.

Dann öffnet sich der Blick auf das Riff. Es ist – natürlich – gewaltig. Korallen so weit das Auge reicht. Es gibt Schluchten und kleine Höhlen zu erkunden, Korallenberge zu bestaunen und Täler zu durchschweben. Auch wenn man kein Meeresbiologe ist, kann man allerdings deutlich sehen, dass das Riff leidet. Die globale Erwärmung lässt die Korallen ihre Farbe und gleichzeitig ihr Leben verlieren, der Kohleabbau führt zu Hafenerweiterungen und dem Ausbau von Schifffahrtswegen und dann sind da noch die zwei Millionen Touristen jährlich, die aufgrund mangelnden Respekts oder mangelnder Tauchkünste auch nicht gerade pfleglich mit dem Riff umgehen. Hin und wieder kommt auch mal ein (ausnahmsweise nicht menschengemachter) Dornenkronenseestern des Weges und frisst ein paar Hektar Korallen mit Haut und Haar einfach auf. So ist das eben, wenn man nicht ganz oben in der Nahrungskette steht.

Die Überlebensaussichten für dieses Naturwunder würde ich im Moment als eher mittelprächtig einschätzen. Auch die Riffbewohner sind zwar noch vorhanden, man muss jedoch schon etwas genauer hinschauen, bis man mal einer Meeresschildkröte beim gemütlichen Grasen zusehen kann oder sich beim Anblick der giftigen Skorpionfische gruseln kann.

Ich sauge also noch so viele Eindrücke wie eben möglich in dieser faszinierenden Unterwasserwelt auf, bevor auch dieses Riff in die Geschichte der von Menschenhand zerstörten Weltnaturwunder eingeht.

Adrenalin

Natürlich habe ich keine guten Vorsätze für das neue Jahr, was mich jedoch nicht davon abhält, trotzdem mal wieder einen Blick auf meine Bucket-List zu werfen; freilich erst, nach dem ich einen Tag ausgekatert habe. Fallschirmspringen steht dort ganz oben und warum sollte man das nicht über dem Great Barrier Reef und dem Daintree Regenwald anstatt über einem deutschen Acker machen? Ich nehme also mal wieder ein Bündel australische Plastik-Dollarnoten in die Hand und werfe sie mit beiden Händen in den australischen Wirtschaftskreislauf. Langsam höre ich auf, über den Wert des Geldes nachzudenken. Geld ist nur buntes Papier und so lange es noch aus der Wand kommt, ist meines Erachtens alles in bester Ordnung. Das australische Geld ist wirklich schön und bunt, was hilft, es als eine Art Monopoly-Spielgeld zu betrachten. Wie in Südostasien: Ein paar Millionen hier, ein paar Millionen dort; wer weniger nachdenkt, hat auch weniger Sorgen. Außerdem war es ja mein erklärtes Ziel, meine Ersparnisse nicht für ein Auto oder die Anzahlung für eine Eigentumswohnung rauszuballern, sondern für was Nachhaltigeres, nämlich unvergessliche Erlebnisse.

Und jetzt, wo ich über das Rollfeld des Flughafens in Cairns gehe, ahne ich, dass dies bestimmt ein unvergessliches Erlebnis wird. Die Propellermaschine hebt zwischen den Quantas-Jets ab und ich sitze direkt an der „Tür“. Unten das Reef und der Regenwald während der Höhenmesser steigt, bis auf 15000 Fuß. Das ist immerhin knapp die Hälfte der Höhe, auf der Verkehrsflugzeuge fliegen – nur das ich mit diesem Flugzeug natürlich niemals irgendwo landen werde. Als die Tür aufgeht, sind wir über den Wolken. Angst habe ich nicht, aber der Moment, in dem einem klar wird, dass man sehr bald aus einem fliegenden Flugzeug springen wird, ist gefühlsmäßig mit nichts zu vergleichen, was ich jemals zu vor erlebt habe. Viel machen muss ich nicht, denn natürlich bin ich fest an Craig, meinen Instruktor, angeschnallt, denn irgendeiner muss ja schließlich wissen, was zu tun ist.

Wir sitzen schon an der Kante und warten, dass das Licht auf grün springt. Man ist in diesem Moment so voller Adrenalin, dass es im Nachhinein schwer zu sagen ist, woran man genau denkt. Ich nehme die besprochene Haltung ein und Craig stößt uns raus. Halbe Drehung, Blick nach oben, dort das Flugzeug, das mit offener Tür unbeeindruckt weiterfliegt, drüber nur die Sonne. Drehung in die Freefall-Position, die Arme ausgestreckt, unter den Wolken der Blick auf den Regenwald und das Meer. Man schwebt nicht, man rast mit 200 Km/h Richtung Erdoberfläche. Drehungen, Späße, Winken in die GoPro. 60 Sekunden dauert der Trip, bevor Craig den Schirm öffnet und ich wieder einen klaren Gedanken fassen kann. Ich darf den Schirm steuern, es ist verblüffend einfach. Ich frage Craig, wie viele Tandemsprünge ergemacht hat, bevor er sich das erste Mal allein aus einem Flugzeug gestürzt hat. „Einen, genau wie Du jetzt“, ist seine Antwort.

Aha, interessante Perspektive, denke ich und überlege sogleich, das Fallschirmspringen auf meine Liste neuer, sündhaft teurer Hobbies zu setzen. Jetzt gilt es aber erstmal sicher zu landen. Es gelingt und auch das scheint mir kein Hexenwerk zu sein. Als ich zum Bus gehe, ist der Adrenalin-Rausch längst noch nicht vorüber.Ich könnte sofort wieder ins Flugzeug steigen, genieße aber stattdessen lieber noch das Hochgefühl. Ich ahne jedoch, dass es nicht das letzte mal gewesen sein könnte.

Silvester

Am Silvesternachmittag sitze ich schon wieder im Flugzeug. Ich verlasse das wenig aufregende Melbourne und fliege in den Norden nach Queensland zum Great Barrier Reef. Warum genau meine Reiseroute jetzt irgendwie im Zickzackkurs verläuft, kann ich mir selbst nicht mehr so genau erklären. Irgendwie erschien es mir zwischendurch wohl klüger, auf dem Landweg von Cairns nach Sydney zu reisen, als von Melbourne nach Cairns. Immer noch eine absurd lange Route für ein paar Wochen, aber wohl irgendwie klimatisch vorteilhafter. Außerdem ließ sich so Silvester in Sydney vermeiden, was ein abartig teurer Spaß ist. Offenbar wollen so viele Leute einmal in ihrem Leben das Feuerwerk vor der Kulisse des Hafens und der weltbekannten Oper sehen, dass eine Nacht im mittelmäßigen Hostel gleich mal 80 Euro kostet. Ich lache mich kaputt, als ich bei Facebook die Massen sehe, wie sie sich schon mittags die besten Plätze im Regen sichern, kurz bevor ich einfach über sie hinweg fliege.

Silvester ist für mich sowieso die sinnloseste Veranstaltung aller Zeiten. Was interessiert es mich oder den Lauf der Welt, ob die Erde die Sonne ein weiteres Mal umkreist hat und vor allem, was habe ich dazu beigetragen, dass ich das feiern müsste? Und erst diese ganzen sinnlosen Vorsätze. Als ob schon jemals eine einzige wichtige Lebensentscheidung an Silvester getroffen wurde. Es ist doch immer das gleiche Trauerspiel, überzogene und sogleich enttäuschte Erwartungen an die Nacht der Nächte. Ich kann mich an keine legendäre, aus dem Ruder gelaufene Partynacht erinnern, die im Vorhinein akribisch geplant war. Silvester ist der Jahrestag der Spießer und Langweiler.

Das alles ändert jedoch leider gar nichts daran, dass ich auch schlecht alleine im Hostel sitzen kann, an diesem Abend. Als das Flugzeug in Cairns landet ist es schon 17.30 Uhr. Achso, es gab eine Zeitverschiebung? Wie immer bin ich grandios unvorbereitet und ahnungslos. Von der Ankunftszeit bin ich genauso überrascht, wie vom tropisch heißen Wetter und ich habe noch immer keine Ahnung, was man in Cairns an Silvester (oder überhaupt) so anstellen kann. Im Taxi zum Hostel checke ich Facebook, Internetforen und sogar Tinder ab – irgendwie ist das jetzt aber auch schon zu spät. Ich muss wohl schnell ein paar Freunde im Hostel finden, bevor dort alle ausgeflogen sind. „Schnell Freunde finden müssen“ gehört jetzt nicht unbedingt zu meinen Lieblingsbeschäftigungen nach einem Reisetag. Ich werfe also meinen Rucksack in den Schlafsaal und gehe zum Pool. Zum Glück sind überhaupt Leute da. Hosteltypisch kommt man schnell ins Gespräch und ich checke einzelne Gruppen mit Leuten ab, die nett aussehen. „Where are you from?“ – Aha, Deutschland. Egal, die Zeit um wählerisch zu sein, ist längst vorbei. Die beiden Jungs sind nett, ihre beiden Freundinnen auch, außerdem noch recht hübsch. Die beiden Pärchen haben gerade Abi gemacht und befinden demzufolge auf dem „Work and Travel“-Planeten. Mit einem Uber fahre ich noch schnell zum letzten geöffneten Liquorstore der Stadt und kaufe Bier. Wir bestellen Pizza und quatschen. Die Vier über ihre Abiturnoten und die Arbeit auf Mangofarmen, ich über Surfen und Tauchen. Die gemeinsamen Gesprächsthemen halten sich zwar in Grenzen, interessant ist es trotzdem. Kraft meiner bloßen Lebenserfahrung genieße ich in der Gruppe den Status eines Altersweisen und es macht Spaß, den ein oder anderen altväterlichen Ratschlag fallen zu lassen.

Beim Feuerwerk am Strand, liegen wir uns in den Armen. Ich hasse Silvester immer noch, bin aber trotzdem froh, dass ich noch nette Gesellschaft gefunden habe. Nach dem Feuerwerk gehen wir in den angesagtesten Backpacker-Club der Stadt. Ich denke mir, jetzt ziehe ich es auch durch. Eine halbe Stunde anstehen, 35 Dollar an der Tür abgeben, um sich in einen völlig überfüllten Laden zu stopfen, der all meine Silvesterbefürchtungen bestätigt. Die Musik als unterirdisch zu bezeichnen, wäre noch arg beschönigt. Der Schweiß tropft von den Wänden, aber nicht in einer guten Art und Weise. Es ist wirklich grausam, genau genommen aber auch nicht viel grausamer als die meisten öffentlichen Silvesterpartys auf denen ich in Deutschland so war.

Wir tanzen, schwitzen und trinken also noch eine Weile, und als ich mich verabschiede, bin ich froh, diesen Jahreswechsel endlich hinter mich gebracht zu haben. Bei einem letzten Bier im Hostel lese ich noch die etlichen unpersönlichen „Guten Rutsch“-Wünsche und lösche all die dämlichen GIFs, während es in Deutschland erst sechs Uhr am Silvesterabend ist und sich noch alle für die „Party des Jahres“ vorbereiten. Wie gut, dass mich von der nächsten Silvesterfeier dank der Zeitverschiebung diesmal neun Stunden mehr trennen.