Unter Segeln

Weit über 1000 Kilometer habe ich bis hierhin auf Booten zurückgelegt. Alles war dabei: Ruderboote, Schlauchboote, Holzboote, Fischerboote, Katamarane und ein Flusskreuzfahrtschiff. Slow-Boote und Speedboote, Massentransportmittel und Privatbeförderung. Mal hatte ich eine Einzelkabine, manchmal habe ich auf Deck geschlafen und wieder andere Male fühlte ich mich wie auf einem hoffnungslos überladenen Flüchtlingsboot. Einige Boote wurden mit dem klassischen asiatischen Longtail-Motor angetrieben und manche hatten sage und schreibe sechs 500 PS starke Außenbordmotoren.

Aber erst jetzt in Australien, bin ich das erste Mal wieder auf einem Segelboot. Die „Broomstick“ war in ihrem früheren Leben mal eine Regatta-Yacht. Das 23,2 Meter lange Extremsportgerät wurde in Südafrika gebaut und hat an den bedeutendsten Hochsee-Regatten der Welt teilgenommen, bis sie zur Touristenbespaßung ausgebaut wurde und jetzt 28 (!) Menschen beherbergen kann. Der Rennspirit ist trotzdem noch voll da. Auf dem Boot finden sich 15 Winschen, die größten von ihnen haben die Ausmaße von 50-Liter-Bierfässern und verfügen über Dreigang-Getriebe. Die sogenannten Coffee-Grinder werden von zwei Mannschaftsmitgliedern an einer in der Bootsmitte festmontierten Kurbelanlage bedient. Sowas kannte ich bislang nur aus dem Fernsehen.

Aber nicht nur die Yacht, auch die Whitsundays haben einiges zu bieten. Schon James Cook segelte 1770 durch die 74 Inseln und gab ihnen ihren heutigen Namen, „Pfingstsonntagsinseln“.

Es sieht aus wie in der Karibik, vielleicht ja sogar besser, warum sonst wurden hier Teile des aktuellen „Fluch der Karibik“-Films gedreht? Die unendlichen Strände, allen voran der legendäre Whitehaven-Beach gelten mit einem Quarzgehhalt von 99 Prozent als weißeste der Welt. Ins Wasser kann man trotzdem nur mit einem Stingersuit. Ohne den Burkini wäre es hier lebensgefährlich, denn natürlich sind in Australien auch die Quallen potentiell tödlich.

Die Whitsundays gelten nicht umsonst als eines der besten Segelreviere der Welt, denn das Great Barrier Reef dient als natürlicher Unterwasserwellenbrecher, während der Wind ungebrochen bleibt. Keine Wellen und 25 Knoten Wind sind so ziemlich das, was man als bestes Segelwetter bezeichnet. So erreichen wir trotz maximaler Menschenfracht eine angenehme Reisegeschwindigkeit von zwölf bis dreizehn Knoten. Erst, wenn das Wasser dank der Krängung leeseitig auf das Boot läuft, fängt es an, Spaß zu machen.

28 Leute auf einem 23-Meterboot sind jedoch schon recht nah an der Schmerzgrenze; für vier Tage jedoch gerade noch auszuhalten. Zum Glück sind keine Totalausfälle dabei, im Gegenteil, alle sind irgendwie cool drauf und überhaupt bildet sich auf so einem Segelboot immer schnell eine Art Mannschaftsgeist. Den Rest erledigen der reichlich vorhandene Alkohol und das traumhafte Wetter, das dazu einlädt, die Nächte an Deck zu verbringen.

All das erinnert mich daran, dass ich dringend öfter Segeln gehen muss und auf meiner Projektliste für den Sommer unterstreiche ich fett den Punkt „Sportküstenschifferschein“.

Ich ahne, dass ich besser ein paar Punkte für die Zeit nach meiner Wiederkehr auf dem Zettel habe, damit ich nicht plötzlich planlos und gelangweilt bin, wenn diese nicht enden wollende Kette von Abenteuern und Erlebnissen plötzlich abreißt.

Fledermausland

Als ich in Cairns den Nachtmarkt verlasse und auf die Straße trete, komme ich mir einen Moment vor, wie Raoul Duke in der Wüste Nevadas. Ich sehe überall Fledermäuse und zwar nicht diese kleinen niedlichen, die ab und an von Höhlendecken hängen, sondern eher so das Modell „mutierter Riesenvampir“; jedenfalls nicht das, was man im Stadtzentrum erwartet. Mein Gesichtsausdruck dürfte daher auch in etwa genauso skeptisch, wie der von Duke gewesen sein, als ich inmitten der Abertausenden Tiere, die eine Flügelspannweite von bis zu 1,50 Meter besitzen, gen Himmel blicke. Im Gegensatz zu Duke bin ich jedoch nicht der Einzige, der die Flughunde – so die korrekte Bezeichnung – sehen kann. Zig Asiaten wussten natürlich schon vorher bestens über dieses täglich bei Dämmerung stattfindende Schauspiel Bescheid und versuchen schon fleißig, sich mit ihren Selfie-Sticks die Augen auszustechen. Auch ich mache ein paar Fotos mit meinem Handy, das aber (wie immer) nicht in der Lage ist, die ganze Dramatik des Augenblicks einzufangen.

Ich erfahre, dass die Tiere hier tagsüber in der Stadt in ihren „Wohnbäumen“ abhängen und dann bei Einbruch der Dämmerung zu ihren Fressplätzen aufbrechen. Das war mir bislang gar nicht aufgefallen, obwohl es hier angeblich mehr Flughunde als Vögel gibt.

Überhaupt ist die Natur in Australien eine Stufe verrückter, als überall sonst auf der Welt. Jedes Tier ist zwei Nummern größer und giftiger als auf dem Rest des Planeten. Von oben grüßen Kakadus und von unten metergroße Echsen. Wie in einem riesigen Zoo ohne Käfige.

Auch sonst mangelt es nicht an Superlativen, zum Beispiel dem Great Barrier Reef. Das Korallenriff ist die Größte von Lebewesen geschaffene Struktur auf der Erde und weil sie vielleicht bald auch die größte von Lebewesen wieder zerstörte Struktur auf der Erde sein wird, beeile ich mich, dort noch ein paar Tauchgänge zu unternehmen. Ich bin nicht als einziger auf die Idee gekommen. Ein Ausflug zum Riff ist eine Massenveranstaltung. Circa 80 Taucher und Schnorchler sind auf dem Boot. Einzelne Gruppen werden per Lautsprecherdurchsage aufgefordert ins Wasser zu springen und es bleibt kaum Zeit, die Ausrüstung in Ruhe zu überprüfen.

Dann öffnet sich der Blick auf das Riff. Es ist – natürlich – gewaltig. Korallen so weit das Auge reicht. Es gibt Schluchten und kleine Höhlen zu erkunden, Korallenberge zu bestaunen und Täler zu durchschweben. Auch wenn man kein Meeresbiologe ist, kann man allerdings deutlich sehen, dass das Riff leidet. Die globale Erwärmung lässt die Korallen ihre Farbe und gleichzeitig ihr Leben verlieren, der Kohleabbau führt zu Hafenerweiterungen und dem Ausbau von Schifffahrtswegen und dann sind da noch die zwei Millionen Touristen jährlich, die aufgrund mangelnden Respekts oder mangelnder Tauchkünste auch nicht gerade pfleglich mit dem Riff umgehen. Hin und wieder kommt auch mal ein (ausnahmsweise nicht menschengemachter) Dornenkronenseestern des Weges und frisst ein paar Hektar Korallen mit Haut und Haar einfach auf. So ist das eben, wenn man nicht ganz oben in der Nahrungskette steht.

Die Überlebensaussichten für dieses Naturwunder würde ich im Moment als eher mittelprächtig einschätzen. Auch die Riffbewohner sind zwar noch vorhanden, man muss jedoch schon etwas genauer hinschauen, bis man mal einer Meeresschildkröte beim gemütlichen Grasen zusehen kann oder sich beim Anblick der giftigen Skorpionfische gruseln kann.

Ich sauge also noch so viele Eindrücke wie eben möglich in dieser faszinierenden Unterwasserwelt auf, bevor auch dieses Riff in die Geschichte der von Menschenhand zerstörten Weltnaturwunder eingeht.

Adrenalin

Natürlich habe ich keine guten Vorsätze für das neue Jahr, was mich jedoch nicht davon abhält, trotzdem mal wieder einen Blick auf meine Bucket-List zu werfen; freilich erst, nach dem ich einen Tag ausgekatert habe. Fallschirmspringen steht dort ganz oben und warum sollte man das nicht über dem Great Barrier Reef und dem Daintree Regenwald anstatt über einem deutschen Acker machen? Ich nehme also mal wieder ein Bündel australische Plastik-Dollarnoten in die Hand und werfe sie mit beiden Händen in den australischen Wirtschaftskreislauf. Langsam höre ich auf, über den Wert des Geldes nachzudenken. Geld ist nur buntes Papier und so lange es noch aus der Wand kommt, ist meines Erachtens alles in bester Ordnung. Das australische Geld ist wirklich schön und bunt, was hilft, es als eine Art Monopoly-Spielgeld zu betrachten. Wie in Südostasien: Ein paar Millionen hier, ein paar Millionen dort; wer weniger nachdenkt, hat auch weniger Sorgen. Außerdem war es ja mein erklärtes Ziel, meine Ersparnisse nicht für ein Auto oder die Anzahlung für eine Eigentumswohnung rauszuballern, sondern für was Nachhaltigeres, nämlich unvergessliche Erlebnisse.

Und jetzt, wo ich über das Rollfeld des Flughafens in Cairns gehe, ahne ich, dass dies bestimmt ein unvergessliches Erlebnis wird. Die Propellermaschine hebt zwischen den Quantas-Jets ab und ich sitze direkt an der „Tür“. Unten das Reef und der Regenwald während der Höhenmesser steigt, bis auf 15000 Fuß. Das ist immerhin knapp die Hälfte der Höhe, auf der Verkehrsflugzeuge fliegen – nur das ich mit diesem Flugzeug natürlich niemals irgendwo landen werde. Als die Tür aufgeht, sind wir über den Wolken. Angst habe ich nicht, aber der Moment, in dem einem klar wird, dass man sehr bald aus einem fliegenden Flugzeug springen wird, ist gefühlsmäßig mit nichts zu vergleichen, was ich jemals zu vor erlebt habe. Viel machen muss ich nicht, denn natürlich bin ich fest an Craig, meinen Instruktor, angeschnallt, denn irgendeiner muss ja schließlich wissen, was zu tun ist.

Wir sitzen schon an der Kante und warten, dass das Licht auf grün springt. Man ist in diesem Moment so voller Adrenalin, dass es im Nachhinein schwer zu sagen ist, woran man genau denkt. Ich nehme die besprochene Haltung ein und Craig stößt uns raus. Halbe Drehung, Blick nach oben, dort das Flugzeug, das mit offener Tür unbeeindruckt weiterfliegt, drüber nur die Sonne. Drehung in die Freefall-Position, die Arme ausgestreckt, unter den Wolken der Blick auf den Regenwald und das Meer. Man schwebt nicht, man rast mit 200 Km/h Richtung Erdoberfläche. Drehungen, Späße, Winken in die GoPro. 60 Sekunden dauert der Trip, bevor Craig den Schirm öffnet und ich wieder einen klaren Gedanken fassen kann. Ich darf den Schirm steuern, es ist verblüffend einfach. Ich frage Craig, wie viele Tandemsprünge ergemacht hat, bevor er sich das erste Mal allein aus einem Flugzeug gestürzt hat. „Einen, genau wie Du jetzt“, ist seine Antwort.

Aha, interessante Perspektive, denke ich und überlege sogleich, das Fallschirmspringen auf meine Liste neuer, sündhaft teurer Hobbies zu setzen. Jetzt gilt es aber erstmal sicher zu landen. Es gelingt und auch das scheint mir kein Hexenwerk zu sein. Als ich zum Bus gehe, ist der Adrenalin-Rausch längst noch nicht vorüber.Ich könnte sofort wieder ins Flugzeug steigen, genieße aber stattdessen lieber noch das Hochgefühl. Ich ahne jedoch, dass es nicht das letzte mal gewesen sein könnte.