Silvester

Am Silvesternachmittag sitze ich schon wieder im Flugzeug. Ich verlasse das wenig aufregende Melbourne und fliege in den Norden nach Queensland zum Great Barrier Reef. Warum genau meine Reiseroute jetzt irgendwie im Zickzackkurs verläuft, kann ich mir selbst nicht mehr so genau erklären. Irgendwie erschien es mir zwischendurch wohl klüger, auf dem Landweg von Cairns nach Sydney zu reisen, als von Melbourne nach Cairns. Immer noch eine absurd lange Route für ein paar Wochen, aber wohl irgendwie klimatisch vorteilhafter. Außerdem ließ sich so Silvester in Sydney vermeiden, was ein abartig teurer Spaß ist. Offenbar wollen so viele Leute einmal in ihrem Leben das Feuerwerk vor der Kulisse des Hafens und der weltbekannten Oper sehen, dass eine Nacht im mittelmäßigen Hostel gleich mal 80 Euro kostet. Ich lache mich kaputt, als ich bei Facebook die Massen sehe, wie sie sich schon mittags die besten Plätze im Regen sichern, kurz bevor ich einfach über sie hinweg fliege.

Silvester ist für mich sowieso die sinnloseste Veranstaltung aller Zeiten. Was interessiert es mich oder den Lauf der Welt, ob die Erde die Sonne ein weiteres Mal umkreist hat und vor allem, was habe ich dazu beigetragen, dass ich das feiern müsste? Und erst diese ganzen sinnlosen Vorsätze. Als ob schon jemals eine einzige wichtige Lebensentscheidung an Silvester getroffen wurde. Es ist doch immer das gleiche Trauerspiel, überzogene und sogleich enttäuschte Erwartungen an die Nacht der Nächte. Ich kann mich an keine legendäre, aus dem Ruder gelaufene Partynacht erinnern, die im Vorhinein akribisch geplant war. Silvester ist der Jahrestag der Spießer und Langweiler.

Das alles ändert jedoch leider gar nichts daran, dass ich auch schlecht alleine im Hostel sitzen kann, an diesem Abend. Als das Flugzeug in Cairns landet ist es schon 17.30 Uhr. Achso, es gab eine Zeitverschiebung? Wie immer bin ich grandios unvorbereitet und ahnungslos. Von der Ankunftszeit bin ich genauso überrascht, wie vom tropisch heißen Wetter und ich habe noch immer keine Ahnung, was man in Cairns an Silvester (oder überhaupt) so anstellen kann. Im Taxi zum Hostel checke ich Facebook, Internetforen und sogar Tinder ab – irgendwie ist das jetzt aber auch schon zu spät. Ich muss wohl schnell ein paar Freunde im Hostel finden, bevor dort alle ausgeflogen sind. „Schnell Freunde finden müssen“ gehört jetzt nicht unbedingt zu meinen Lieblingsbeschäftigungen nach einem Reisetag. Ich werfe also meinen Rucksack in den Schlafsaal und gehe zum Pool. Zum Glück sind überhaupt Leute da. Hosteltypisch kommt man schnell ins Gespräch und ich checke einzelne Gruppen mit Leuten ab, die nett aussehen. „Where are you from?“ – Aha, Deutschland. Egal, die Zeit um wählerisch zu sein, ist längst vorbei. Die beiden Jungs sind nett, ihre beiden Freundinnen auch, außerdem noch recht hübsch. Die beiden Pärchen haben gerade Abi gemacht und befinden demzufolge auf dem „Work and Travel“-Planeten. Mit einem Uber fahre ich noch schnell zum letzten geöffneten Liquorstore der Stadt und kaufe Bier. Wir bestellen Pizza und quatschen. Die Vier über ihre Abiturnoten und die Arbeit auf Mangofarmen, ich über Surfen und Tauchen. Die gemeinsamen Gesprächsthemen halten sich zwar in Grenzen, interessant ist es trotzdem. Kraft meiner bloßen Lebenserfahrung genieße ich in der Gruppe den Status eines Altersweisen und es macht Spaß, den ein oder anderen altväterlichen Ratschlag fallen zu lassen.

Beim Feuerwerk am Strand, liegen wir uns in den Armen. Ich hasse Silvester immer noch, bin aber trotzdem froh, dass ich noch nette Gesellschaft gefunden habe. Nach dem Feuerwerk gehen wir in den angesagtesten Backpacker-Club der Stadt. Ich denke mir, jetzt ziehe ich es auch durch. Eine halbe Stunde anstehen, 35 Dollar an der Tür abgeben, um sich in einen völlig überfüllten Laden zu stopfen, der all meine Silvesterbefürchtungen bestätigt. Die Musik als unterirdisch zu bezeichnen, wäre noch arg beschönigt. Der Schweiß tropft von den Wänden, aber nicht in einer guten Art und Weise. Es ist wirklich grausam, genau genommen aber auch nicht viel grausamer als die meisten öffentlichen Silvesterpartys auf denen ich in Deutschland so war.

Wir tanzen, schwitzen und trinken also noch eine Weile, und als ich mich verabschiede, bin ich froh, diesen Jahreswechsel endlich hinter mich gebracht zu haben. Bei einem letzten Bier im Hostel lese ich noch die etlichen unpersönlichen „Guten Rutsch“-Wünsche und lösche all die dämlichen GIFs, während es in Deutschland erst sechs Uhr am Silvesterabend ist und sich noch alle für die „Party des Jahres“ vorbereiten. Wie gut, dass mich von der nächsten Silvesterfeier dank der Zeitverschiebung diesmal neun Stunden mehr trennen.

Go east, arrive west: Welcome to Oz!

Das Flugzeug setzt in Melbourne nicht nur auf einem anderen Kontinent, sondern in einer anderen Welt auf – nämlich im Westen. Nach fünf Monaten Nicht-Westen ist das ein Kulturschock. Alles ist (wieder) teurer, sogar viel teurer als in Deutschland. Alles ist aber auch hübsch reguliert, man kann jetzt offenbar nicht mehr machen, was man will. Es gibt Verbote, Behörden und Polizei. Es gibt Ampeln, vor denen man bei Rot stehen bleiben muss. Natürlich drängt sich mir nach den vergangenen Monaten sofort der Gedanke auf, dass es woanders auch ohne diesen ganzen Schnickschnack funktioniert. Aber Funktionieren ist natürlich relativ. Die Anwesenheit von (echter) Demokratie und die Abwesenheit von Korruption wären dem ein oder anderen Bürger Südostasiens sicher sehr willkommen, der Reisende hat regelmäßig nichts dagegen einzuwenden, wenn gewisse Dinge nicht geregelt sind und niemanden interessieren.

Wie auch immer, ich komme in meinem Hostel im Stadtteil Fitzroy an. Alles mutet sehr europäisch an. Das Szeneviertel ist eine Mischung aus dem Berliner Prenzlauer Berg, Hamburgs St. Georg und einer englischen Dorfidylle.

Das Klima ist angenehm, es ist ein europäischer Hochsommer, nicht bloß eine tropische Trockenzeit. Alle sprechen Englisch und alle verstehen einen. Es ist komisch, nicht mehr aufzufallen. Niemand identifiziert einen hier als Backpacker und deshalb will einem hier auch keiner mehr was verkaufen. Man kann durch die Stadt gehen, als wäre man selbst ein Einheimischer und würde zur Arbeit gehen oder irgendwas tun, was eben Leute mit einem geregelten Alltag tun. Man ist in der Masse wieder perfekt getarnt.

Melbourne ist Australiens Hipster-Hauptstadt und deshalb gibt es jede Menge hervorragender Cafés, Streetart und angesagte Bars. Mein erstes Frühstück in Australien kostet 30 Australische Dollar (20 Euro) und plötzlich leuchtet mir ein, warum es im Hostel eine gut ausgestattete Küche gibt, in der man selbst kochen kann. Sowas habe ich seit St. Petersburg nicht mehr gesehen und mir wird klar, dass ich die letzten fünf Monate dreimal am Tag auswärts Essen gegangen bin. Ich kaufe Lebensmittel im Supermarkt ein und stelle erfreut fest, dass es Vollkornbrot, Käse und Wasser mit Kohlensäure zu kaufen gibt.

Nach zwei eher antisozialen Tagen und der Lektüre von Stuckrad-Barres „Panikherz“ verspüre ich das Bedürfnis, mich ins Nachtleben zu stürzen. Die Bars sehen allesamt aus wie in Berlin: Kein Putz an den Wänden, schummriges Licht und Sofas. Die Clubs sehen leider gar nicht so aus wie in Berlin. Zwar muss man auch hier eine halbe Stunde anstehen, aber nur, um dann in etwas zu kommen, das an eine oldenburger Dorfdisco erinnert. Wer immer mal die Feststellung getroffen hat, Melbourne ist das Berlin Australiens, war entweder niemals in Berlin oder niemals hier feiern. Macht nichts, denn in guter Gesellschaft ist die Kulisse zweitrangig.

Die Nacht hat geholfen, den Kulturschock etwas zu dämpfen. Der Gewöhnungsprozess läuft langsam an. Als wir in der Hostelküche zusammen kochen, legt jemand das Album „In Colour“ von Jamie xx auf. Wenn das kein Zeichen ist: Der Soundtrack des Abspanns meiner Asien-Etappe als australisches Hostelküchen-Deja-Vu. Alles erscheint in diesem Moment gerade sehr, sehr folgerichtig.

Melbourne ist ansonsten das, was man gemeinhin als Stadt mit hoher Lebensqualität bezeichnet: Saubere Straßen, sehr viel Grün, Museen und Kultur, Bars, Meer, Strand und so weiter und so fort. Es ist immer was los, zum Beispiel macht gerade das Volvo Ocean Race hier Station, immerhin die härteste Segelregatta der Welt. Man kann die Rennyachten bestaunen und sich Interviews mit den Seglern anhören.

Alles ganz nett hier. „Nett“, wie eben jemand „nett“ ist, mit dem man es zwar aushalten kann, aber keinesfalls eine Beziehung eingehen möchte.

Und deshalb muss ich jetzt auch langsam mal los. Es soll ja noch andere Städte in Australien geben. Vielleicht sogar welche, die ein bisschen mehr als nur „nett“ sind.

Bling Bling

Shanghai erreiche ich mit dem Zug. Nicht etwa, weil ich jetzt beschlossen hätte, die ganze Welt mit dem Zug zu umrunden, es war eine pragmatische Entscheidung. Weder war fliegen billiger noch sehr viel schneller. 

Zwischen Peking und Shanghai gibt es eine Highspeed-Verbindung; die über 1300 Kilometer legt man in gut fünf Stunden zurück. Die transsibirische Eisenbahn wäre für die gleiche Strecke zwei Tage lang durchs Land gerumpelt. 

Das Zugmodell gleicht dem deutschen ICE 3 wie ein Ei dem anderen, ein Siemens-Werk hat dieses Gefährt aber ganz bestimmt noch nie von innen gesehen. Eine perfekte Kopie, bis auf dass die Chinesen offenbar der Ansicht sind, dass auch fünf Leute in einer Reihe Platz finden. Im Unterschied zu seinen deutschen Vorbildern hat man dem Klon jedoch gleich noch die passende Trasse spendiert. Hier beträgt die Durchschnittsgeschwindigkeit 300 km/h und nicht die Spitzengeschwindigkeit, wie es in Deutschland vielleicht für 15 Minuten zwischen Köln und Frankfurt der Fall ist. Man stelle sich nur mal vor, man könnte von Berlin nach Rom mit dem Zug in fünf Stunden fahren!

Steigt man in Shanghai aus, ist es ein bisschen, wie das erste Mal in New York zu sein. Der Blick geht nach oben. Es ist ein Wolkenkratzer-Nationalpark. Als ich ankomme, ist die die Sonne längst untergegangen, aber alles strahlt so hell, dass ich sofort meine Sonnenbrille aufsetzen möchte – die ganze Stadt ist ein einziger Times Square. Auf dem Weg hierher bin ich durch unzählige Millionenstädte gefahren, die grau und trist waren und deren Namen niemand in Deutschland kennt oder jemals kennen wird.

Aber das hier ist eine strahlende Mega-City mit Weltstadt-Flair. Man merkt sofort, dass hier ein ganz anderer Film läuft, als in Peking. Es ist eine Mischung aus Las Vegas und Bangkok, die Straßen sind voll und das Leben pulsiert. Sofort kann man sich vom Strom mitreißen lassen und einem wird gleich klar: hierher kommt man nicht, um sich zu erholen.


Das tue ich dann auch nicht. Mit zwei Franzosen, einem Londoner und einem Mädel aus Detroit ziehe ich in einen angesagten shanghaier Technoclub. 

Es handelt sich um die Art von Club, um die jeder Berliner, der noch alle Tassen im Schrank hat, einen großen Bogen machen würde: viel buntes LED-Blinklicht, eine große Bühne für die drei DJs, die ständig Anheiz-Parolen ins Mikrophon brüllen und die Trockeneis- und Konfettikanonen abfeuern. Die Musik ist unterirdisch, es scheint jedoch niemanden zu stören.

Das Absurdeste sind jedoch weder das Ambiente, noch die grauenhafte Musik. Das Absurdeste sind die Preise und dass wir sie nicht bezahlen – oder besser gesagt: warum wir sie nicht bezahlen. Keine 25 Euro Eintritt, keine 22 Euro für einen Gin&Tonic und keine elf Euro für ein kleines Bier.

Weil wir Westerners sind. 

Ja, der einzige Grund, warum uns jemand zu einem VIP-Tisch begleitet, an dem uns alle Drinks für lau gemischt werden ist, das wir weiß sind. Ich frage mich, was hier los ist und ob das nicht alles ein bisschen rassistisch ist. 

Offenbar werten wir den Laden gehörig auf, weil wir Nicht-Chinesen sind. Der 19-jährige Londoner, der gerade einen Forschungsaufenthalt in Shanghai beendet hat, ist schon zum dritten Mal in dem Laden, er ist ein begehrtes Flirt-Ziel für die jungen Chinesinnen. Mir dämmert, dass wir hier zum Entertainment-Programm für die reichen Chinesen gehören. Es ist, wie so oft: Bezahlst du nichts, dann bist du selbst das Produkt.

„It’s insane“, kommentiert einer der Franzosen. Er hat Recht und es kommt mir daher sehr gelegen, dass die Amerikanerin, die in China ‚International Business Administration‘ studiert, nach einigen Stunden in den Club kotzt und wir sie zurück zum Hostel bringen müssen.

Das Produkt war heute wohl leicht mangelhaft.