Die letzte Etappe

Ich befinde mich auf der letzten Etappe im Streckennetz, das gemeinhin noch als transsibirische Eisenbahn bezeichnet wird, obwohl die Fahrt von Ulan Bator nach Peking natürlich nicht mehr durch Sibirien führt. 

Das Leben im Zug ist für mich längst zur Normalität geworden. Die Fahrzeiten sind genauso endlos, wie die vorbeiziehenden kargen Landschaften. Draußen regnet es und es ist langweilig. Der chinesische Zug gleicht dem Mongolischen und der glich dem Russischen. Hier in China kommt allerdings niemand mehr regelmäßig rein, um den Teppich im Abteil zu saugen und die Fenster zu putzen. Dafür ist das verkaufte Essen hier eingeschweißt und man darf rauchen.

Die Länderwechsel sind mit stets mit nicht enden wollenden Grenzübertrittsprozeduren verbunden. Passkontrolle, Zoll, Drogenfahndung, Spürhunde, Abteilkontrolle – jeweils für Ein- und Ausreise. Stundenlang bewegt sich der Zug dann nicht. An der Grenze zwischen der Mongelei und China wird dann sogar der ganze Zug „umgespurt“. Die Waggons werden hierzu einzeln aufgebockt, das mongolische Fahrgestell wird per Hand abgeschraubt und das Chinesiche unter den Zug geschoben. Grund dafür ist die andere Spurweite in China – ein Kniff aus alter Zeit, damit der Feind im Krieg nicht die vorhandene Eisenbahninfrastrukur für seine Zwecke nutzt, sprich: mit dem Zug einrollt.

Der Staat ist jetzt ein anderer, die Landschaft bleibt die gleiche. Ich bin hungrig, aber Tütensuppen kann ich nicht mehr sehen und auf diesem Abschnitt gibt es auch keinen Speisewagen. Aus den Steckdosen kommt nutzloserweise Gleichstrom. Wenn ich die zurückgelegte Strecke in meiner Karten-App anschaue, dreht sich die Weltkugel um ein gutes Viertel.

Ich mag Zugfahren. Das Leben im Zug ist eine einzigartige Erfahrung und es war mir wichtig, die gesamte Strecke im Zug zurückzulegen. 

Ich bin trotzdem froh, dass wenn ich morgen ich in Peking ankomme, die Schienen-Etappe einstweilen geschafft ist und ich neu entscheiden kann, wie ich weiterreise. Per Anhalter, per Flugzeug – vielleicht aber auch wieder im Zug.

From rags to riches 

In Ulan Bator angekommen beziehen wir unsere Unterkunft, die diesmal aus einer Jurte auf dem Dach eines Guesthouses besteht. Die Gegend kann man nur als Slum bezeichnen, was aber nicht weiter schlimm ist.

Wir haben Abendprogramm, denn meine Mitreisende hat einen Kumpel, der vor ewigen Zeiten mal mit einem Mongolen aus Ulan Bator in Australien studiert hat. Er hat angeboten, sich mit uns zu treffen, was wir gerne annehmen. Die Locals zu treffen ist immer eine gute Idee. Was wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen: Der B. ist nach seinem Studium beruflich ziemlich durchgestartet und gehört jetzt zur Oberschicht von Ulan Bator. 

Er kennt uns nicht, besteht aber darauf, uns abzuholen, um mit ihm und seiner Frau gemeinsam Essen zu gehen. Schon auf dem Hinweg zu unserer Behausung insistiert seine Frau, dass es sich bei der Adresse nur um einen Irrtum handeln kann. Tut es aber nicht. 

Mit dem B. fahren wir sodann durch die halbe Stadt, um dann in einem Nobelhotel in Laufweite unseres Slums anzukommen. Vielleicht war der Weg auch nur so weit, weil man an diesem Wochentag in Ulan Bator nicht links abbiegen darf.

Im Restaurant bestellt der B. für uns unfassbare Mengen an Essen und während ich die Whisky-Karte studiere, frage ich mich, ob ich meinen Trip wegen dieses opulenten Abendessens nun verkürzen muss. Es wird noch ein Grillteller gebracht. Leider können wir vor unserer Wüstentour – anders als die Kamele – nicht im Voraus essen. 

Der B. beschließt, mit uns zu trinken und klingelt seinen Fahrer von der Couch. Als der mit einem weiterem von B.’s Geländewagen vor dem Hotel wartet und wir aufbrechen, ist der B. mit seiner Kreditkarte so flink, dass wir nicht mehr dazu kommen, die Rechnung zu teilen. Sollen wir auch nicht, er freut sich, dass wir seine Gäste sind.

Für seine Frau ist im Auto kein Platz mehr. „Meine Frau läuft nach Hause, wir wohnen ganz in der Nähe“, sagt der B. 

Ähm, ok , aber will sie denn nicht… ? Nein, will sie nicht; sie will einen Spaziergang nach Hause machen.

Wir kriegen eine Privatführung durch Ulan Bator. B.’s Wagen ist groß genug, um Autos und Fußgänger, die sich nicht weghupen lassen, einfach beiseite zu schieben. Wir müssen nirgends einen Parkplatz suchen, denn unser Fahrer wartet immer im Auto.


Die Nacht lassen wir in einer Location mit Schranke vor dem Parkplatz und Concierge ausklingen. Die Bar ist eingerichtet wie ein englischer Gentlemen’s Club und unsere Kleidung kann man getrost als „inappropriate“ bezeichnen. Beim Bier bestellen und bezahlen ist der B. schneller als wir trinken können. 

Als B. erfährt, dass wir nach Peking ebenfalls mit dem Zug in der zweiten Klasse reisen, klingt es, als suche er nach Möglichkeiten, uns dieses Elend zu ersparen. Wir reagieren verhalten, weil wir fürchten, er organisiert uns noch einen Helikopter für den Rest des Weges. Man merkt, dass er nie gereist ist, denn für uns geht es ja nicht darum, möglichst schnell von A nach B zu kommen.

Als wir uns verabschieden, tauschen wir Kontaktdaten aus und natürlich biete ich an, dass er sich melden soll, falls er mal in Berlin ist. Es wird dann vermutlich Burger und Bier vom Späti am Landwehrkanal geben, wohin wir mit der U-Bahn fahren. Heute ziehen wir auf B.’s Art um die Häuser, in Berlin würden wir es auf meine Art tun und vor den Berliner Clubs gibt es keine Parkplätze mit Schranke.

Als der B. seinem Fahrer den Weg in unsere Gegend weist, kriegt dieser noch einen Lachanfall. 

Wir lachen auch.

In Sibirien 

Ich habe mich noch ein Stück weiter vorgewagt und verbringe etwas Zeit in Biryusa am gleichnamigen Fluss. Ich bin bei Aleksej und seiner Familie untergebracht und ich will das Leben in einem typisch sibirischen Dorf kennenlernen. Aleksejs Nachbarin Tatjana, eine ehemalige Englischlehrerin, führt mich durch das 120-Seelen Dorf. Fließendes Wasser gibt es nicht, aber die Bezirksregierung tut einiges, um junge Leute im Dorf zu halten. Offenbar mit Erfolg, denn man sieht viele Kinder und sogar einen Kindergarten gibt es. Das Leben hier ist nicht unkompliziert aber einfach. Wer nicht in Taischet ist, um zu arbeiten, hütet Garten und Tiere oder setzt, wie Aleksejs Schwiegermutter Valentina, Ikonenbilder aus tausenden Plastikmosaiksteinchen zusammen.

Nach dem Dorfspaziergang breche ich mit Aleksej in die sibirische Taiga auf. Er will mir die Natur zeigen, die ich bislang nur aus dem Zugfenster kenne. Es regnet und Aleksejs SUV muss sich durch knietiefe Schlammlöcher wühlen. Er ist der einzige Mensch, den ich kenne, der so ein Auto wirklich braucht. Mit so einem handelsüblichen SUV lässt sich sogar ein Fluss durchqueren; wer hätte das gedacht. Zu schade, dass die meisten seiner Artgenossen in den Städten diese Erfahrung niemals machen werden.

Bei Wind und Wetter haben wir Mühe unser Feuer am brennen zu halten. Trotzdem bereiten wir ein oppulentes Mahl mit Hühnerfleisch, Kartoffeln und Gemüse aus Aleksejs Garten zu, um uns für einen kleinen Trekkingtrip zu stärken. Er erzählt, dass es man in letzter Zeit verstärkt auf die Bären Acht geben muss, denn viele haben Nachwuchs bekommen und sind mit diesem lieber ungestört. Wir treffen zum Glück keinen.

Es regnet und wir sind völlig durchgeweicht, als wir wieder bei ihm sind. Zum Glück hat Valentina schon die Sauna bzw. das Badezimmer angeheizt. 

Ich habe eine grobe Vorstellung davon bekommen, wie das Leben links und rechts der Gleise aussieht. Trotzdem freue ich mich fast ein bisschen auf das Klo im Zug. Da verschwinden die Fäkalien nämlich per Wasserspülung auf nimmer Wiedersehen auf die Gleise – anstatt langsam unter einem im Boden zu versickern.

Im Zug

Es heißt, die Reise mit der transsibirischen Eisenbahn sei eines der letzten Abenteuer unserer Zeit. Da mag was Wahres dran sein, allerdings gilt das in erster Linie für unsereins und nicht für zahlreiche Russen, für die die Transsib schlicht das Fortbewegungsmittel der Wahl ist, um von einem Ende des Landes ans andere zu kommen. Sie können nicht verstehen, dass man das als Freizeitvergnügen macht. Und tatsächlich stelle ich mir häufiger die Frage nach dem Warum? Es ist sicher nicht der außerordentliche Komfort in Zug Nr. 70 von Moskau in Richtung Baikalsee und auch ganz bestimmt nicht der grauenhafte Zustand der Klos, auf denen ich nicht nur tue, was ohnehin getan werden muss, sondern mich auch wasche, meine Zähne putze und mein Geschirr spüle.

Vielleicht ist es aber auch doch all dies. Das viel beschworene Verlassen der Komfort-Zone. Außerdem ist es fast schon wieder lustig, wenn die völlig nackte Katze unserer Abteilgenossin, die wir der Einfachheit halber Rolf genannt haben, sich direkt neben unser Geschirr auf den Esstisch setzt. Sie tut das ganz vorsichtig, um ihr gut präsentiertes Skrotum beim hinsetzen nicht zu einzuquetschen. Ein absurdes Schauspiel, das sich da wenige Zentimeter neben unserem Essen abspielt. 

Wir sind tolerante Mitreisende; die russische Katzenbesitzerin ist es nicht. Dass wir bis spät in die Nacht Vodka trinken und lachen, findet sie nicht lustig.

Währenddessen verschwimmen im Zug Raum und Zeit. Der Fahrplan richtet sich nach Moskauer Zeit, aber das hat nichts mehr mit den Tages- und Nachtzeiten zu tun, die sich beim durchqueren von sechs Zeitzonen vor dem Zugfenster abspielen. Alles zerläuft: man schläft, wenn man müde ist, isst, wenn man hungrig ist, trinkt, wenn man Durst auf Bier oder Vodka hat; draußen wird es abwechselnd hell und dunkel. Kartenspielen im Zugrestaurant, Lebensgeschichten erzählen, Leute kennenlernen, Lesen, Musik hören, Tütensuppen zubereiten oder einfach Stundenlang bei einem Tee die großartige Landschaft – oder wahlweise unendliche Birkenhaine – genießen. Internet gibt es selbstverständlich nicht.

Man hat auch keine Angst, dass man seinen Bahnhof verpasst, denn man steigt tagelang nicht aus. Strukturiert wird der Tag allenfalls von den Stops in den größeren Städten. Wenn der Zug länger hält, kann man sich draußen die Beine vertreten, rauchen und Essen kaufen. 

Das muss es sein, was die Küchenpsychologen meinen, wenn sie von Entschleunigung reden. Der Zug fährt langsam und transportiert einen gleichwohl tausend um tausend Kilometer um den Erdball. Man ist zum Müßiggang verdammmt. 

Endlich.