Ja, gegen dieses Neuseeland gibt es wirklich nicht viel einzuwenden. Fabelhafte Natur, nette Menschen, null Kriminalität, alles idyllisch, alles pittoresk. Von Kaikoura bin ich nach Picton gereist, wo die Marlborouh Sounds die Südinsel nach Norden mit einer malerischen Fjordlandschaft ausklingen lassen.
Im eiskalten Wasser des Queen Charlotte Sounds tauche ich an einem der zahlreichen Schiffswracks bevor ich mich Tags drauf mit dem Boot bis ganz zur nördlichen Spitze fahren lasse, um die erste Etappe des Queen Charlotte Tracks abzuwandern. Das Boot wird von mindestens 30 Delfinen begleitet, die kreuz und quer aus dem Wasser springen, als ob ein unsichtbarer Zirkusdirektor ihnen just in diesem Moment aufgetragen hätte, hier zu unserer Unterhaltung eine kleine Show abzuliefern. Vor vier Jahren haben ganz in der Nähe Delfine einen Schwimmer vor einer Haiattacke gerettet. Diese Hilfsbereitschaft; wie menschlich, frohlockt man. Aber Delfine haben auch ihre dunklen Seiten. Schon gleich könnten sie sich zu einer tagelangen Gruppenvergewaltigung verabreden und anschließend die Jungen ihrer Konkurrenten töten. Diese Abgründe; wie menschlich, fürchtet man.
Ich überlasse die Delfine ihrem vielschichtigen Treiben und stelle mir vor, wie es wohl wäre, hier ein kleines Häuschen zu haben, weit draußen im Sound. Fernab von allem, mitten im Grün, eine große Sonnenterrasse, ein Boot am Steg und sonst nicht viel. Ich sehe mich da sehr zufrieden sitzen, auf meiner Terasse mit einer Zeitung oder einem Buch während mir allabendlich die orangefarbene Sonne ins Gesicht scheint. Aber ist das überhaupt möglich? Kann die Natur allein genug sein? Bei genauerem Hinsehen ist das eigentlich auch die Frage, die sich hinsichtlich dieses ganzes Landes stellt. Irgendwie dauert es, bis ich hier richtig ankomme – ja, es fühlt sich gar an, als würde hier etwas fehlen. Aber was? Warum kriegt mich das Land nicht zu 100 Prozent?
Der gut gepflegte Wanderweg schlängelt sich in Serpentinen bergauf und bergab und immer wenn sich in diesem grünsten Grün eine Lücke auftut und einen Blick auf das blaueste Blau freigibt, bleibe ich stehen und lasse meinen Blick schweifen. Und dann wird mir klar, was bei mir im Kopf das latente Störgefühl auslöst: Ich bin hier nur ein Zuschauer. Ich reise durch das Land, wie durch den größten botanischen Garten der Welt und gehe seine vorgezeichneten Wanderwege entlang, als passiver Beobachter; und jetzt ist da diese Stimme in meinem Kopf, die ruhelos wie ein kleines Äffchen von einem Bein auf andere hüpft und skandiert, dass man sich das hier ja wohl auch im Fernsehen auf National Geographic anschauen könnte, ohne dabei in überteuerten Hostels zu wohnen und schlechtes Essen zu essen. Aber das ist natürlich hanebüchener Unsinn, denn kein Bildschirm der Welt kann diese Farben darstellen, den Geruch der Meeresluft simulieren und die Zufriedenheit nach einer langen Wanderung vermitteln. Und doch: Das Äffchen mault und quengelt. Dabei gehört die Natur hier zum Besten, was der Planet im Angebot hat.
Es soll noch ein paar Tage dauern, bis sich der Zustand absoluter Entspannung einstellt. Erst das Dreihäuserdorf Punakaiki an Neuseelands Westküste vermag mir die innere Ruhe zu vermitteln, die diesem Fleckchen Erde angemessen ist. Schon als ich im Beach Hostel ankomme, weiß ich sofort, dass das hier das Paradies ist. Das Hostel liegt direkt am Strand sowie am Nationalpark und ist ein herrliches Strandhaus mit Garten und Meerblick. Nur einen Supermarkt gibt es leider nicht, was ich zwar irgendwie wusste, aber auch irgendwie verdrängt habe. Und weil die Bar nebenan bloß völlig überteuertes Tiefkühlessen auftischt, ist es ein großes Glück, dass die J. – die ich bereits in Nelson kennengelernt habe – am nächsten Tag auftaucht und einen Berg Essen mitbringt. Das Glück ist eben mit den Dummen.
Nachdem ich den Nationalpark mit dem Stand-Up-Paddling-Board erkundet habe, leihe ich mir ein Surfbrett und komme zum eigentlichen Grund meines Aufenthaltes hier: Wellenreiten.
„And never forget: the ocean is the boss!“ sagt Dion noch, als er mir das Malibu Longbord gibt und mich nach kurzem Briefing in die Wellen entlässt. Was er damit meint, bedarf keiner weiteren Erklärung, denn hier an der Westküste wechselt das Wetter fünfminütlich zwischen Sturm und strahlendem Sonnenschein. Die Wellen, die hier auf dem 42 Längengrad angerollt kommen, hatten seit Argentinien Zeit ihre Kräfte zu sammeln. Erst vor zwei Tagen hat sich das Meer die halbe Küstenstraße einverleibt, was nun immerhin zur Folge hat, dass ich im Strandhaus fast allein bin.
Ab jetzt gibt es nur noch „im Wasser“ oder Erholen vom „im Wasser“. Ich trotze Wind, Regen und auch Sturm, ich schlucke mehr Salzwasser als ich in den letzten Monaten Bier getrunken habe und wenn ich vom Bord fliege, knallt mir das Ding im „Waschgang“ der Welle gegen die Schienenbeine, den Kopf und jedes andere Körperteil. Die J. leistet mir öfter Gesellschaft hier draußen, was mir ein subjektives Sicherheitsgefühl vermittelt, denn außer, dass der Ozean der Boss ist, weiß ich nicht viel von ihm und seinen Gefahren.
Trotz Frustration, Schmerzen und Erschöpfung mache ich immer weiter. Wann habe ich nur das letzte Mal für eine Sache so gebrannt? Ich feiere die guten Wellen und jeden kleinen Erfolg, bis ich mit letzter Kraft zurückpaddele, um dann einfach nur auf dem Balkon des Strandhauses zu lesen und der Sonne dabei zuzusehen, wie sie in Zeitlupe ins Meer fällt, bis am nächsten Tag alles wieder von vorn losgeht. Auch die kleine getriebene Stimme des Äffchens ist jetzt einstweilen verstummt.