Es gibt Dinge, die kann man auf Reisen kaum vermeiden, Durchfall zum Beispiel. Es gibt aber auch Dinge, die kann man sehr gut vermeiden, den Flug verpassen zum Beispiel. Und dann gibt es noch Dinge, die man theoretisch vermeiden kann, die dann aber praktisch doch passieren, Betrügern auf den Leim zu gehen zum Beispiel.
Aus eigener Erfahrung kann ich nun sagen, dass das noch eine Nuance ärgerlicher ist als Durchfall, weil man sich fürchterlich über sich selbst ärgern muss. Die heutige Lehrstunde hat mich (zum Glück nur) 20 Euro gekostet.
Als ich allein in Shanghai unterwegs bin, fragen mich zwei jüngere Frauen, ob ich ein Foto von ihnen vor der Brücke machen kann, an der ich gerade vorbeikomme. Natürlich kann ich. Sie verwickeln mich in ein Gespräch. Sie seien Touristen aus Peking und für 5 Tage in Shanghai usw. Es folgt ein kurzer Smalltalk. Sie sagen, sie wollen Richtung Altstadt gehen, ich war eigentlich in die andere Richtung unterwegs. In der Altstadt sei ein Teefestival, ob wir nicht ein Stück zusammen gehen wollen, die alten Gebäude dort müsste man gesehen haben und für sie sei es eine willkommene Gelegenheit, Englisch zu sprechen. Ich zögere, aber sie sagen, sie würden sich sehr freuen, sie träfen doch sonst nie Deutsche.
Tatsächlich ist ihr Englisch so schlecht, dass man sie kaum für Profis halten kann. Ich habe ohnehin kein richtiges Ziel und Leute kennenzulernen gehört zum täglichen Geschäft des Alleinreisenden.
Ihre Geschichten sind schlüssig und nach einigen hundert Metern kehren wir in einen „Teesalon“ ein, der schon nicht wirklich wie ein Teesalon aussieht. Die Teezeremonie sei Teil des Festivals, erklärern sie mit einem „Festival-Stadtplan“ in der Hand, auf dem ich natürlich kein Wort lesen kann. Es könnte sich durchaus um eine „echte“ Zeremonie handeln.
Zu diesem Zeitpunkt habe ich schon einige Zweifel, aber die beiden halten das Gespräch am laufen und sie sind sehr gut, in dem was sie tun. Warum auch nicht? Nur weil sie Kriminelle sind, heißt das ja nicht, dass ihre Arbeit stümperhaft verrichten.
Bei der dritten Schale Tee wird mir dann auch der Preiszettel gezeigt. Jeder probierte Tee kostet 49¥, was so ca. sechs Euro sind. „This is fucking expensive!“, protestiere ich.
Aber die Beiden tun so, als wäre es das Normalste der Welt, für einen Tee sechs Euro zu bezahlen. Außerdem könne ich von jedem probierten Tee soviel trinken, wie ich wolle. Es wird immer offensichtlicher, dass es ein abgekartete Spiel ist, aber zu diesem Zeitpunkt sucht mein Gehirn noch verzweifelt nach irgendwelchen Erklärungen, damit ich mir nicht eingestehen muss, auf sie reingefallen zu sein. Gibt es vielleicht doch ein Festival? Ist das vielleicht der beste Tee der Welt? Was weiß ich denn schon?
„You want to try another type?“ fragen sie.
„Hell no! Are you kidding me?“
Ich sage, dass wir jetzt bessser gehen sollten. Sie bezahlen ihre Rechnungen – es gehört zu ihrem Geschäftsmodell, dass ich gar nicht merken soll, dass ich abgezogen werde. Sie machen ihren Job sehr gut.
Der für die Selbsttäuschung zuständige Teil meines Gehirns behauptet daher noch immer, dass schon alles seine Richtigkeit haben könnte, aber langsam wird es unglaubwürdig.
Ich zahle. Die beiden hören derweil nicht auf, einen auf „It was so nice to meet you“ zu machen. Auch das hält mich vermutlich davon ab, sofort zum nächsten Polizisten zu rennen und mich auszuheulen. Erst als sie sich verabschiedet haben, sehe ich wieder klar. Ich brauche gar nicht mehr im Internet zu schauen, ob es wirklich ein Tee-Festival gibt.
Es ist ja schließlich nicht so, als hätte das Auswärtige Amt nicht genau vor dieser Masche gewarnt. Es ist auch nicht so, als wäre ich zum ersten Mal von irgendwelchen Leuten angequatscht worden, die auch clevere Maschen hatten, die ich jedoch sofort durchschaut habe.
Nur verstanden diese Beiden es eben besonders gut, sich mit einer Aura der Harmlosikkeit zu tarnen.
Überdies kann man auch nicht pausenlos in höchster Alarmstellung sein und würde ich jedem, den ich treffe, immer gleich das Schlimmste unterstellen, wäre das eine sehr einsame Reise. Zudem muss, wer alle Sicherheitshinweise des Auswärtigen Amtes peinlich genau befolgt, zu Hause bleiben.
So ist das: Hinterher ist man immer schlauer. Oder von außen betrachet, mag sich manch ein Leser jetzt denken.
Nach einer kurzen Pause beschließe ich, zum Teeladen zurückzukehren und anzubieten, dass ich mein Geld zurückbekomme und im Gegenzug nicht mit der Polizei wiederkomme. Ich finde den Laden nicht mehr. Er ist vermutlich hinter einer Jalousie verschwunden. Ich schaue nochmal in der Umgebung, ob ich die beiden auf der Suche nach ihrem nächsten Opfer wiederfinde. Verdammt, sie sehen alle gleich aus. Das Geld ist mir egal, ich ärgere mich einfach – vor allem über meine eigene irrtümliche Einschätzung.
Ich schreibe die 20 Euro ab und beschließe, nicht den Rest des Nachmittags damit zu vergeuden, mit chinesischen Polizisten den Laden zu suchen. Ich will mich nicht weiter ärgern.
Fehler zu machen gehört zum Reisen dazu – so wie unbequeme Betten und dreckige Klos. Erst wenn die Dinge anders laufen als geplant, wenn alles schiefgeht, wird es interessant. Längst hat sich ja auch in der Arbeitswelt die Einsicht durchgesetzt, dass Scheitern häufig ein wichtiger Bestandteil des Erfolgs ist; und dass man (nur) aus Fehlern lernt, weiß ohnehin jedes Kind. Es muss wehtun.
Es war ein verhältnismäßig folgenloser Irrtum für mich. Immerhin hätte ich auch ausgeraubt werden können. Aber die Geschichte hat mich daran erinnert, dass man nicht alles planen und vorhersehen kann. Schon gar nicht ist man immer auf alles vorbereitet.
Es wird sicher nicht das letzte Mal gewesen sein, dass Dinge schieflaufen – aber das ist okay. An Erfahrung gewinnt man ja bekanntlich immer. Und darum geht es doch, oder etwa nicht?